Klaus Mertes SJ Kolumne

HIER SCHREIBT KLAUS MERTES

Überforderung und Gewalt

Die Lage in den Kinderkliniken darf uns nicht egal sein

Nach Angaben des Roten Kreuzes kommt es wegen der Überlastungen von Kinderkliniken zunehmend zu Aggressionen gegen die dortigen Beschäftigten: „Es häufen sich die Fälle von Androhungen oder der tatsächlichen Ausübung psychischer und physischer Gewalt gegenüber dem Gesundheitspersonal.“ Wegen der Personalknappheit, hoher Krankenstände und Zeitdruck können Eltern oft nur unzureichend eingebunden werden. Das führe „zu wachsender Anspannung auf allen Seiten.“

„Wachsende Spannung auf allen Seiten“ – das ist eine gute Formulierung. Sie relativiert die klischeehaften Vorstellung, es gäbe da schreckliche Eltern gibt, die das Personal von der Arbeit abhalten und gewalttätig werden. Die Gewalt ist vielmehr symptomatisch für die Überforderung „auf allen Seiten“. Mich erinnert das an vergleichbare Vorfälle in Kitas und Schulen in den letzten Jahren, gefühlt immer mehr: Eskalation zwischen Lehrern und Eltern, wenn und weil die Situation insgesamt alle Beteiligten überfordert.

Die tieferen Ursachen für die sich breit machende Überforderung in unseren Gesundheits-, Sozial- und Bildungssysteme sind bekannt: Personalmangel, immer mehr Aufgaben, immer mehr Verwaltung, Probleme bei der Ausstattung, und so weiter. Das führt langfristig dazu, das die entsprechenden Berufe immer unattraktiver werden.

Man mag noch so sehr mit dem Finger auf politisches Versagen hinweisen – der Frust trifft konkret diejenigen, die vor Ort die Arbeit machen, die Lehrerinnen, Pfleger, Jugendsozialarbeiter, das Zugpersonal.

Immer weniger jungen Menschen wollen sich das antun und gehen deswegen erst gar nicht mehr in diese Berufe hinein.

Warten auf die Politik hilft nicht

Es hilft nicht zu warten, bis die Politik umgesteuert hat. Die großen Systeme ändern sich nur durch nachhaltig wirkende Veränderungsprozesse. Die brauchen Zeit. Und: Die Systeme, das sind auch wir selbst. Jede einzelne Person kann bei sich selbst anfangen: Überforderung eingestehen, sich abgrenzen lernen, rechtzeitig nach Hilfe schauen, Erwartungen überdenken, sich nicht selbst auf die Opferrolle reduzieren, und so weiter.

Systemveränderungen von oben geht eben nicht ohne Beteiligung von unten. Was zur Zeit im Gesundheitssystem geschieht, ist jedenfalls ein Zeichen der Zeit, das alle angeht.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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