Tobias Zimmermann SJ Jesuit

HIER SCHREIBT TOBIAS ZIMMERMANN SJ

Kaputt gespart

Tobias Zimmermann SJ wirft einen kritischen Blick auf die finanzielle Situation in Ludwigshafen – und ist richtig wütend

„Ludwigshafen – wie hältst Du das hier bloß aus?“ – Das wird Lena Odenthal im letzten Tatort von ihrer Tante gefragt. Die Frage kennen alle, die nach Ludwigshafen zugezogen sind. Und natürlich tun die Bewohnerinnen und Bewohner Ludwigshafens gut daran, dies an vielen Stellen mit Humor zu nehmen. Und so gibt es z. B. die Stadtführung durch „die hässlichsten – und manchmal nicht so hässlichen Orte in Ludwigshafen“. Aber irgendwo hört auch der Spaß auf!

Die Stadt hat derzeit keinen Haushalt, weil sich die Stadtführung der hochverschuldeten Stadt und die Aufsichtsbehörde nicht auf einen genehmigungsfähigen Haushalt einigen können. Nun zeichnet sich ab, dass die Stadtspitze eine radikale Kur erwägt: Kürzung aller „freiwilligen Leistungen“. Dahinter verbirgt sich – je nach Umfang – nicht weniger als der Zusammenbruch der sozialen Infrastruktur dieser Stadt: kein Schwimmbad mehr geöffnet; Beratungsstellen, Sozialarbeit in Kitas und Schulen, Jugendzentren, getragen von Freien Trägern …, alles weg! Selbst wenn am Ende ein ausgeglichener Haushalt stünde, offenbar die Voraussetzung für eine Entschuldung Ludwigshafens:

Der Patient, der soziale Organismus der Stadt, wäre tot.

Als einfacher Bürger verstehe ich bestimmte Mechanismen nicht: Warum führt der Länderfinanzausgleich für Rheinland-Pfalz dazu, dass das Land trotz oder wegen (?) Rekordeinnahmen z. B. durch Biontech ein riesiges Defizit einfährt? Wie kommt es, dass eine der Herzkammern deutscher, industrieller Wertschöpfung, Ludwigshafen, zu den ärmsten Kommunen Deutschlands zählt? Natürlich kann man sich über die Hässlichkeit dieser Stadt lustig machen. Aber die Armut und die Hässlichkeit Ludwigshafens sagt auch viel über dieses Land! Warum?

Schere zwischen Arm und reich wird immer größer

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich in Deutschland immer weiter. Darüber gibt es schicke akademische Diskussionen in den Großstädten. Aber die Realität ist in der Peripherie wie in Ludwigshafen zu spüren. Und diese Realität ist: An Ludwigshafens Bürgerinnen und Bürger, an ihrer Infrastruktur, an Bildung und sozialen Leistungen wird nicht nur gespart, weil die Stadt ihren Eigenanteil nicht erbringen kann oder will. Der Staat spart dadurch auf den anderen Ebenen, dem Land, dem Bund und der EU Geld. Geld, das herumliegt, statt den Menschen zu dienen.

Hilft der Staat da, wo es am meisten brennt? Weit gefehlt! Nein! Mein Eindruck ist: Auch hier gilt das eherne Prinzip: Der Teufel scheißt auf den reichsten Misthaufen!

Und weil viele davon profitieren, und sei es nur dadurch, dass sie die Verantwortung auf andere schieben könne, wird sich so bald nichts ändern.

Gibt es dagegen einen Aufschrei? Nein, eher erschöpftes Schweigen und etwas Ablästern über die Hässlichkeit dieser Stadt. Aber in einigen Jahren könnte sich erweisen, dass die, die jetzt eine lautstarke Debatte um Berlin und die Integration entfesselt haben, die falsche Sau durch‘s Dorf getrieben haben. Denn so wenig die lautstarken Krawalle zu verharmlosen sind – der langfristige soziale Schaden passiert möglicherweise gerade andernorts, schweigend, an Orten wie Ludwigshafen.

Es ist heute schlimmer denn je

Wundern Sie sich über meine deftige Sprache? Ja, ich entdecke gerade selbst überrascht, wie wütend ich bin. Ich lebe seit drei Jahren in Ludwigshafen und bin begeistert, wie engagiert sich Bürgerinnen und Bürger, soziale Clubs, die in dieser Region nicht besonders vermögenden Kirchen und viele Firmen an zahlreichen Stellen für den Zusammenhalt der Stadt engagieren. Mit dieser Unterstützung konnten wir allein mit unserem Projekt „Mahlzei!t Lu“ seit Gründung 2020 fast 50.000 Essen ausgeben. Aber eben auch dies: Wir mussten 50.000 Essen ausgeben. Und die Menschen erzählen uns: Es ist heute schlimmer denn je. Sie haben inzwischen schon am Monatsanfang oft nicht mehr das Nötigste zum Essen.

Wenn also in Ludwigshafen derzeit auch keine Böller knallen. Es brennt, lichterloh! Deshalb: Liebe Akteure in Politik und Verwaltungen, auf kommunaler Ebene, in Land und Bund, in Regierung und Opposition, Subsidiarität kann auf Dauer nicht bedeuten, dass wir euren Job machen!


Tobias Zimmermann SJ

ist Priester, Pädagoge und Jesuit. Als Autor und als Mitbegründer des Zentrums für Ignatianische Pädagogik (ZIP), das er seit Oktober 2019 leitet, arbeitet Tobias Zimmermann an Projekten der Entwicklung der katholischen Schulbildung und Spiritualität, in der Schulentwicklung, im Coaching für Leitungskräfte und in der Fortbildung von Schulleitungen und Pädagogen. Seit Oktober 2019 ist er Direktor des Heinrich Pesch Hauses und wirkt mit an der Weiterentwicklung der Akademie im Bereich Online-Bildung, neue Schwerpunktthemen sowie an der Entwicklung der Heinrich Pesch Siedlung, einem Modellprojekt für soziale und ökologische Stadtentwicklung.

Foto: Stefan Weigand

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