Klaus Mertes SJ Kolumne

HIER SCHREIBT KLAUS MERTES

Fußball oder Moral?

Dürfen wir über die Fußball-WM überhaupt urteilen?

Die Fußball-WM in Katar ist politisch aufgeladen wie kaum ein Sportereignis zuvor. Machen wir uns zu Komplizen von Menschenrechtsverletzungen, wenn wir die Spiele schauen? Dürfen wir überhaupt darüber urteilen? Ein Kommentar vom Jesuiten Klaus Mertes.

Manchmal springen mich Sätze an, die ich nicht mehr aus dem Kopf kriege. So geht es mir mit dem ZEIT-Leitartikel in der Ausgabe vom 24.11.2022. Der Autor befasst sich mit der Kritik an der Fußball-WM in Katar, genauer: Mit der Tatsache, dass Herr Infantino dem Westen aufgrund seiner kolonialen Geschichte bestreitet, ein Recht darauf zu haben, die Menschenrechtsverletzungen des WM-Gastgebers Katar zu kritisieren, da der Westen ja selbst jahrhundertelang so viele Menschenrecht verletzt habe – und auch tatsächlich hat. Dann folgt der Einwand des Autors gegen diesen Einwand. „Lieber Doppelmoral als gar keine Skrupel.“

Je mehr Skrupel, umso anständiger?

Ich verstehe diesen Satz als eine trotzige Bestreitung der Bestreitung, nach dem Motto: Klar, der Westen hat Schuld auf sich geladen, aber immerhin hat er Schuldgefühle und schaut sich die Spiele in Katar deswegen mit authentischem Unbehagen an – und das ehrt ihn, wenigsten ein wenig. Hmm. Stimmt das wirklich?

Klingt ein bisschen nach Selbsterlösung, nach dem Motto: Je mehr Skrupel, umso anständiger.

Und: Was bedeutet der Satz im Umkehrschluss? Ist etwa die Voraussetzung dafür, „die Menschheit sowohl in der eigenen Person als auch in der Person eines jeden anderen“ (Kant) achten zu dürfen und zu sollen, selbst frei von Schuld zu sein?

Gewiss nicht. Aber was noch schwerer wiegt: Ist Doppelmoral wirklich im Vergleich zu gar keiner Moral das kleinere Übel? Auch da widerspreche ich. Doppelmoral ist – im Unterschied zu gar keiner Moral – infektiös, toxisch. Das unterscheidet sie von gar-keine-Moral. Im Evangelium wird sie „Heuchelei“ genannt. Sie ist genau jenes Laster, mit dem „die Kleinen zum Bösen verführt“ werden. Für Heuchler gilt deswegen im Evangelium der harte Satz, dass es für sie besser wäre, „mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt“ zu werden (Matthäus 16,8), damit sie ihr Gift nicht weiter unter dem Anschein des Guten verbreiten können.

Doppelantwort

Vermutlich bleibt mit Blick auf das Katar-WM-Desaster nichts anderes übrig, als sich für eine Doppelantwort auf die Skrupel, so sie vorhanden sind, zu entscheiden.

Erstens: Sich in den nächsten drei Wochen vom Fernseher zu verabschieden – was mir zugegebenermaßen ziemlich leicht fällt, da ich mich aus außer-moralischen Gründen schon länger vom Fußball verabschiedet habe.

Zweitens: Sich des moralischen Urteils über diejenigen vollkommen zu enthalten, die zuschauen und mitfiebern. Denn auch das sagt das Evangelium: Die beste Strategie gegen Doppelmoral ist Selbstkritik ohne noch kritischeren Seitenblick auf die Anderen. Und dann schließlich: Sich bei Menschenrechten von niemandem das Maul verbieten lassen.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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