Lisa Kötter Maria 2.0

Versöhnung  

»Wir werden vielleicht manches, was uns lieb geworden ist, verlieren«

Schritte zu einer gerechteren Kirche

Was wir loslassen müssen, wenn wir uns auf den Weg zu einer gerechteren Kirche machen, an der alle gleichermaßen teilhaben können, ist Sicherheit. Wir müssen mit Widerstand rechnen, wir werden vielleicht manches, was uns lieb geworden ist, verlieren.

Die Sicherheit, die Kirche bietet, kostet einen hohen Preis: Gehorsam und keinerlei Widerspruch, auch wenn Verstand, Gewissen und Herz etwas anderes sagen. Das ist zutiefst unchristlich. Und mehr und mehr Menschen können und wollen diesen Preis nicht mehr zahlen. Denn er macht unfrei und abhängig. Seit Jahrhunderten hängen wir an der Nabelschnur von Mutter Kirche. Wir schwimmen in ihrer geschlossenen Fruchtblase und warten, dass endlich etwas geschieht, etwas Neues beginnt. Aber Mutter Kirche nimmt, um im Bild zu bleiben, sozusagen ständig wehenhemmende Medikamente. Damit alles weiterhin schön ruhig bleibt und wir glauben, die Blase, in der wir leben, sei die Welt. Aber die Zeit des Wartens ist vorbei!

Ich träume von einer neuen Kirche, die deshalb mächtig ist, weil in ihr die Liebe regiert.

Diese Kirche braucht keine »Stellvertreter Christi«, weil sie ihn in jedem Menschen sieht. Drei zentrale Ge­ danken Jesu spielen dabei eine wichtige Rolle: »Was ihr den geringsten meiner Brüder tut, das tut ihr mir«, »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen« und »Tut dies zu meinem Gedächtnis«.

Neue Wirklichkeit entsteht nicht durch Reden, sondern durch konkretes Tun. Wir erneuern Kirche, weil wir Kirche sind und weil wir so handeln, wie wir es von Jesus gelernt haben. Wir versammeln uns in seinem Namen an verschiedenen Orten, feiern zusammen das Liebesmahl. Niemand steht unseren Versammlungen vor. Jesus ist unter uns, wenn jede*r willkommen ist.

Jesus hat keine neue Religion gegründet. Er lebte und starb als frommer Jude. Er hat auch nicht »die Kirche« gegründet. Da waren Menschen, die ihm folgen wollten. Deshalb kamen sie zusammen.

Die Kirche sollte Gefäß sein für den Auftrag Jesu, die Liebe Gottes unter den Menschen sichtbar zu machen und dadurch sein Reich zu verkünden. So lange, bis es selbstverständlich ist. Bis die Liebe unter den Menschen Kirche überflüssig macht …

Jesus ging zu den Menschen, er war bei ihnen zu Gast. Und so taten es auch seine Freunde. Tun wir das auch!

Suchen wir Gastgeber*innen! In Küchen und Wohn­zimmern, in Gärten, in Sporthallen, Altenheimen, in Gaststätten oder in Obdachlosenheimen können wir zusammenkommen. Viele, die auf Besuch warten und sich nach Gemeinschaft sehnen, können sich einbringen.

Wir haben viele Ideen und möchten einiges erproben, was lange undenkbar erschien. Es gibt keinen festen Ort aus Stein oder Holz für diese Art von Gemeinde. Das Beisammensein wird zur Kirche ohne Netz und doppelten Boden. Es braucht keine Schlüssel­ oder Deutungshoheit, keine Bestimmer*innen. Als Gast und Gastgeber*in begegnen wir uns auf Augenhöhe und nicht von oben herab.

Wir können an einer neuen Kirche mitbauen, in der sich Menschen heimisch fühlen, die Christ*innen sind und bleiben wollen. An einer Gemeinschaft, die Räume schafft, auch für diejenigen, die sich durch das Fest­ halten der alten Kirche an ausgrenzenden und undemokratischen Strukturen abgestoßen fühlen.

Ob unsere Beziehung zu Gott* geprägt ist durch Liebe, Vertrauen und Intimität, wie sie in Jesus aufscheint – ob sie also eine erwachsene Liebesbeziehung ist oder ein Verdammung und Strafe fürchtendes Angstverhältnis –, das hat mehr mit der Liebe und Zuwendung zu tun, die wir erfahren, als mit der Zahl der Gebete und Regeln, die wir lernen und ausführen.

Nicht jedes unserer Vorhaben wird gelingen. Aber wenn wir nicht den Anspruch haben, alles gleich in Ewigkeitsmodelle zu gießen, dürfen wir auch mal auf dem Holzweg sein.

Es gibt noch viele Fragen zu klären. Antworten finden wir in der Nachfolge Jesu, indem wir sein Wort ernst nehmen. Wenn wir uns der Geistkraft anvertrauen und Jesus glauben, dass Gott* uns bedingungslos liebt, dann führt uns der Glaube in die Weite.

Auf dem Weg zu sein und mit den Menschen Glauben und Leben, Wein und Brot zu teilen, ist jesuanische Nachfolge. Im Film Das 1. Evangelium – Matthäus von Pasolini kommt Jesus aus der Wüste und begegnet ein paar Männern. Das Erste, was er nach diesen 40 Tagen des Meditierens und Ringens mit den eigenen Abgründen zu ihnen sagt, ist: Ändert euren Sinn!

Der Wandel, nicht der Stillstand, ist ein Geheimnis unseres Glaubens.

Veränderung geschieht nicht von heute auf morgen. Aber Stillstand können wir uns nicht länger leisten. Scheitern ist erlaubt, Umwege auch. Fatal ist es, wenn aus lauter Angst, etwas falsch zu machen, das bestehende System immer mehr erstarrt.

Wir helfen einander als Bewegung Maria 2.0 durchs Leben. Auch indem wir unserer Sehnsucht und unserer Gottesbeziehung Lieder geben, Zeichen, Bilder und Tänze. Indem wir versuchen zu verdichten, was uns geschenkt ist. Indem wir uns wandeln, weil wir lebendig sind. Indem wir Brot brechen und teilen. Gemeinschaft erfahren in der Freude, in der Trauer, in der Endlichkeit und in der Hoffnung.

Die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei

Sind das nicht alles Träumereien? Und werden diese Wunschvorstellungen nicht an der mächtigen Organisation der Kirche scheitern?

Ja, das Risiko besteht. Und ja, wir sind Träumerinnen. Aber glauben heißt auch vertrauen. Und schon heute ist kirchenrechtlich einiges möglich – wenn die Bischöfe nur wollen. Die Schweiz macht es vor: Die Leitung der Gemeinde muss nicht mehr allein in der Hand eines Klerikers liegen. Die Zeit der Einzelkämp­fer ist vorbei. Doppelspitzen, männlich und weiblich besetzt, können helfen, gemeinsam mit möglichst vielen engagierten Gemeindemitgliedern neue Formen des Miteinanders zu finden.

Auch alle Gremien der Pfarreien sollten so weit wie möglich paritätisch besetzt und mit Entscheidungsbefugnis ausgestattet werden. Wir brauchen ein gelebtes Priestertum aller Getauften, auch auf Leitungsebene. Jede und jeder kann ein Segen sein.

»Brot und Wein«

In Zürich gibt es eine Gemeinde, die Wundervolles macht: Einmal im Monat lädt sie nicht nur die Gemeindemitglieder, sondern alle Leute aus dem Viertel ein zu Brot und Wein. So nennt sie diesen Abend. Immer gibt es einen besonderen Gast, der etwas zu erzählen hat: einen Modemacher, eine Geschäftsfrau, einen Musiker, eine Psychologin oder den Imam der nahe gelegenen muslimischen Gemeinde. Egal, ob jemand Christ*in ist oder nicht – es geht darum, einander zu­ zuhören. Und dazu gibt es eben Brot und Wein – natürlich auch einen guten Käse. Und immer wird an diesen Abenden irgendwann auch über den Glauben gesprochen, das Verbindende gesucht. In solchen Momenten das Leben bei Brot und Wein zu teilen, das ist für mich nicht nur Seelsorge, sondern eucharistisches Tun.

Eine paritätische Gemeindeleitung gibt es in vielen Gemeinden der Schweiz, inzwischen auch in Deutschland. Da werden mancherorts die Gemeindeleitungen alle drei Jahre neu gewählt beziehungsweise bestätigt, auch der Priester wird alle paar Jahre bestätigt beziehungsweise gewählt. Gemeindeleitung kann mit der Person des Priesters (oder später einmal: der Priesterin) identisch sein. Aber es muss nicht so sein. Entscheiden tut dies die Gemeinde.

Warum sollte eine offene Wahl durch die Gemeindemitglieder weniger gerecht sein als die wenig transparenten Berufungs­ und Auswahlprozesse in der jetzigen Struktur?

Niemand wird ausgeschlossen, wenn wir uns gegenseitig segnen, wenn wir uns begleiten und bestärken. Wir bilden Gemeinschaften vor Ort, in denen wir unseren Verstand benutzen, einander zuhören, Neues ausprobieren und verwerfen dürfen. In diesen selbstverantwortlichen Gemeinschaften, die Kirche sind, sprudelt das Leben. Deshalb decken wir als Bewegung Maria 2.0 die Tische auf den Kirchplätzen, und jede*r, die/der kommen mag, ist willkommen. Wir beten, singen und brechen gemeinsam das Brot.

Abdruck des Textes mit freundlicher Genehmigung des bene! Verlags

Portrait Lisa Kötter © Ralf Baumgarten, weitere Fotos: © birdys/photocase.com, © owik2/photocase.com, © birdys/photocase.com


Kötter Schweigen war gestern Buch

Schweigen war gestern

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Ein kraftvolles Buch von Lisa Kötter, einer der Gründerinnen der Reformbewegung Maria 2.0, die für den Aufstand der Frauen in der katholischen Kirche steht. Für alle, die sich nach neuen Formen des Glaubens sehnen. Mit einem Vorwort von Carolin Kebekus.

bene! Verlag, 2021, 160 Seiten, ISBN 978-3-96340-186-2


Lisa Kötter

kam als viertes von fünf Kin­dern 1960 in Münster zur Welt. Zwischen katholischer Enge und unbeaufsichtigter Kinderfreiheit wuchs sie mit vier Brüdern auf. Kunststudium und Ausbildung in Freiburg, Kassel und Göttingen. Lisa Kötter hat vier erwachsene Kinder und drei Enkeltöchter. Sie lebt als freischaffende Künstlerin mit ihrem Ehemann heute wieder in Münster. Im Jahr 2019 hat sie die Bewegung Maria 2.0 mitinitiiert und engagiert sich seitdem bei vielen Aktionen.

Foto: © Ralf Baumgarten

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