Lotta Lubkoll und Esel Jonny
Von München bis an das Mittelmeer. Zu Fuß. Mit einem Esel und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 3 Kilometer pro Stunde. 80 Tage lang – und immer getrieben von einer beinahe grenzenlosen Neugierde. Die 25-jährige Lotta Lubkoll hat genau das getan und trat 2018 gemeinsam mit ihrem treuen Begleiter Esel Jonny diese Reise an. Dabei erkannte sie: das Ziel ist nicht das Ziel.
Morgens irgendwo zwischen Plaus und Meran: Lotta wird von Jonny mit einem langezogenen “Ihhh” aus dem Schlaf geweckt. Gerädert und widerwillig schält sich die Schauspielerin aus ihrem Schlafsack und streckt ihren Kopf aus dem kleinen grünen Zelt. Sie ist müde vom Unterwegssein, ein paar Tage Pause an einem Ort wären jetzt das richtige. Es ist bereits der 39. Tag ihrer Reise. Draußen erwarten sie die hellen Nüstern ihres Esels Jonny, der ihr aufgeweckt guten Morgen zuruft. “Ihhh-hhh” Sein Rufen klingt schrullig, ist es doch nicht das eseltypische “Ihh-A”, aber Lotta macht sich nichts daraus. Während der Reise konnte man schon manchmal fast auch ein “Ahh” hören, zumindest mit Fantasie.
Es gibt mehr als höher, weiter, schneller
Lotta ist 25 Jahre alt, hat gerade ihre Ausbildung zur Schauspielerin abgeschlossen, ihren Job gekündigt und jetzt drei Monate Zeit mit Jonny von München Richtung Süden zu laufen. Immer weiter, ohne konkretes Ziel, nur das Hier und Jetzt erfahren. Insgeheim hat sie doch ein Ziel: Das Mittelmeer, aber das sagt sie lieber vorerst noch nicht. Wer weiß, ob ihr Esel nicht vorher einfach keine Lust mehr hat und sie die Reise abbrechen muss?
Immer weiter, ohne konkretes Ziel, nur das Hier und Jetzt erfahren.
Mit einem Esel wandern zu gehen, war schon immer ein Traum der blonden, quirligen jungen Frau. Sie liebte den Esel aus Shrek, Donkey, seit ihrer Kindheit und fand die Vorstellung faszinierend mit einem solchen wandern zu gehen. Dabei war Laufen nie Lottas Ding. Longboard oder doch gleich das Auto sind ihre bevorzugten Alternativen. Ihr Vater hatte einen ähnlichen Traum: Mit dem Traktor und einem Zirkuswagen wollte er später, wenn er dann in Rente ist, durch die Weltgeschichte reisen – alles ansehen, in Langsamkeit unterwegs sein. Doch dazu kam es nie. Er starb im März 2016. Nur wenige Monate blieben ihm von der Diagnose Krebs bis zu seinem Tod.

Der Tod ihres Vaters stellte für Lotta einen großen Lebenseinschnitt mit heftigen Konsequenzen dar: Sie litt in Folge dessen an Ängsten und Wahnvorstellungen und traute sich nicht einmal mehr, alleine den Weg nachts im Dunkeln zur Toilette zu gehen. Und doch war es der Moment, in dem sie Begriff: “Ich darf meine Träume nicht weiter aufschieben, ich darf mich nicht verrennen im höher, weiter, schneller – es muss einen anderen Weg geben.” Und kaufte sich einen Esel.
In 80 Tagen zum Mittelmeer
Am 9. Juli 2018 begann die Reise. Eine Reise, bei der nichts vorgegeben war, außer drei Monaten Zeit und den 3 km/h, die der kleine Esel an Schritttempo vorgab. Über Routen hatte sich die sonst so durchorganisierte Frau keine Gedanken gemacht, ihr Ziel aber stets fest vor Augen: Der Süden, im besten das Mittelmeer. Es folgen Tage, an denen Lotta ans Aufgeben denkt, wenn die Füße schwer werden, kein Schlafplatz in Aussicht ist oder Jonny sich vor lauter Angst vor einem unerwarteten Hindernis lange Zeit nicht mehr vom Fleck bewegt. Doch immer wieder findet sie einen Grund weiter zu laufen, sich durch die engen Straßen der Städte zu schlängeln, Gewittern auszuweichen und den nächsten Anstieg zu überwinden: Neugierde, was dort kommen mag, treibt sie an.


Auf der Suche nach einem Schlafplatz in der Nähe des Reschenpasses wird sie von Nachbarn zu einem Tippi-Dorf geschickt. Während sie dort darauf wartet, dass der Besitzer ihr den Weg zu ihrem Weideplatz zeigt, gerät ihr ein Flyer des skurrilen Dorfes in die Finger: “Natur- und Wildnisschule” Ihre Neugierde ist geweckt. Sie bleibt eine ganze Woche und lernt, Feuer nur mit Holzreibung zu machen, Schnüre aus Brennnesseln zu flechten und sich einen Naturschlafsack zu bauen. Später, wenn ihre Reise beendet ist, wird sie die Ausbildung absolviert haben und ihre eigenen Gruppen bei München anleiten.
Immer dabei: Lottas Vater
So wie diese Begegnungen prägen Lotta viele. Im Grunde ist jede einzelne ein weiterer Beginn ihres neuen Lebens. Ihre Angstzustände verschwinden mit der Zeit, sie vergisst, dass es dort draußen eine Welt mit getaktetem Zeitplan gibt. Und immer wieder hatte sie das Gefühl eine dieser Begegnungen müssen von ihrem Vater initiiert worden sein, so besonders, wie diese sind.
Auch an diesem einen Morgen irgendwo zwischen Plaus und Meran macht sich Lotta wieder auf, all ihre Sachen, Zelt und Schlafsack zu verstauen, ihren Rucksack zu packen und den Packsattel ihres Esels zu beladen. Er hat sie zum Aufstehen überzeugt – wie so viele Male; und die Neugierde, was an diesem Tag wohl für Begegnungen warten, zieht sie zurück auf ihren Weg gen Süden. Ein Weg, der viel mehr ist, als Teer und Schotter: Ein Weg ins Hier und Jetzt, angetrieben durch kindliche Entdeckungsfreude und dem Mut zu wagen. Keinesfalls aber nur ein Weg zum Ziel.