Warum Musikstücke mehr als Materie oder Mentales sind
Viele haben den Klang im Ohr: „Forever young, I want to be forever young”. „Ewig jung möchte ich sein.“ Vielleicht haben Sie schon einmal daran gedacht, dass dieser Song oder ein anderes Musikstück tatsächlich „Forever Young“, ewig jung sein könnte, und für immer bestehen bleibt? Für Philosophen ist das eine ernsthafte Frage und die Standardantwort war nicht nur in der Vergangenheit, als man noch mehr an den Himmel voller Geigen glaubte, sondern ist auch heute: ja.
Im Herzen jung bleiben – wer möchte das nicht? Ein Erlebnis von Frische und Jungsein habe ich bei manchen Kunstwerken. „Forever Young“ erinnert mich an meine Jugend, ans Radiohören im Auto. Es erinnert mich an das verlockende Angebot der Nymphe Kalypso an den Seefahrer Odysseus, er solle doch bei ihr auf der Insel bleiben, dann werde sie ihn zu den Göttern erhöhen und ewig jung erhalten, wie sie ewig jung sei. Und doch zieht es Odysseus zu seiner treuen, inzwischen gealterten Frau Penelope auf der Scholle seiner verstorbenen Ahnen in Itaka. „Forever Young“ erinnert an den Grusel aus Oskar Wildes Dorian Gray, bei dem statt des Körpers ein Bild alterte. Es erinnert mich an Versprechungen der Werbung, die bleibende Jugend suggerieren. All diese Arten von Unsterblichkeit meine ich nicht, wenn ich dafür argumentieren will, dass der Song „Forever Young“ oder ein anderes Musikstück unsterblich oder ewig sind.
Der Song als Materie?
Ich frage, wie „Forever Young“ existiert? Der naheliegendste Vorschlag ist, dass es materiell ist. Ist der Song das konkrete Singen von Bob Dylan und anderen Cover-Sänger*innen, letztlich die Tonschwingungen, die an bestimmten Orten und Zeiten von bestimmten Menschen oder CD-Spielern oder Radios produziert werden? Das wäre ähnlich, wie die Existenz einer Statue an einem bestimmten konkreten Marmorblock hängt. So ist es aber nicht bei Zeitkunstwerken wie Theaterstücken oder Kompositionen. Es würde „Forever Young“ geben, wenn der Song nur in Bob Dylans Notizbuch stünde und vielleicht in 100 Jahren entdeckt würde. Es würde ihn geben, wenn Bob Dylan nur von ihm geträumt hätte und jemand in 200 Jahren, der durch hochentwickelte Technologie in den Geist der verstorbenen Person eindringen könnte, davon sänge. Mir scheint sogar, es würde den Song geben, hätte Dylan wirklich nur klar von ihm geträumt und kein Mensch außer dem Autor würde je von ihm erfahren.
Der Song als Erlebnis?
Ist das Zeitkunstwerk also etwas, das nur im Bewusstsein der Menschen existiert? Auch diese Annahme macht Probleme. Es gäbe dann viele Songs „Forever Young“. Es gibt viele Hörerlebnisse und viel inneres Singen des Songs. Was davon aber wäre der Song selber? Mein Hören, Ihres oder dasjenige des Singer-Songwriters? Wenn man sich schon für eines entscheiden muss, dann vielleicht das Erleben von Bob Dylan beim Entwickeln des Songs. Aber dieses Erleben ist längst vorbei – und doch existiert der Song noch heute! Der Song ändert sich auch nicht mehr, wenn unsereins oder Dylan sich daran erinnert. Er ist mehr als etwas Psychisches.
Der Song als Abstraktum?
Viele, die darüber nachdenken, sagen, dass Zeitkunstwerke Abstrakta sind. Ideen, die nicht vergehen. Klassisch hat man Abstrakta für ewig gehalten. Beispiele wären „ewige“ Zahlen, geometrische Figuren, Bedeutungen, Wahrheitswerte oder Ideale wie Besonnenheit oder Schönheit.
Jetzt scheint es aber, dass unser Song in der Zeit entstanden ist. Vor Dylan gab es keinen Dylan-Song. Ganz anders denkt man gewöhnlich von Abstrakta: Natürlich gab es die Zahl Pi, bevor man sie über eine Zeichnung eines Kreises einführen oder über Cauchy-Folgen definieren konnte. Sollte Bob Dylan seinen Song nicht erfunden, sondern nur entdeckt haben, wie man die Kreiszahl Pi entdeckt hat?
Der Song als erschaffene Seele
So richtig weiß ich hier nicht weiter. Immerhin fällt mir ein, dass es da beim alten Platon auch noch etwas anderes gibt, das abstrakt und endlos ewig ist, aber zeitlich und eventuell sogar mit einem Anfang gedacht werden kann: Geistseelen, die „unsterbliche Seele“, aufgegriffen von mancherlei Monotheisten und eingängig illustriert in Andersons Märchen von der kleinen Meerjungfrau.
Vielleicht ist ein Zeitkunstwerk eine Art Seele. Nicht ein Seelending, sondern Seele als eine spezifische zeitliche Lebendigkeit. Mein Denken drängt mich dazu und zugleich ist mir unwohl. Dylans Song besingt also nicht nur menschliches Wunschdenken, er ist selber „Forever Young“? Ja, das kann mancher Hörer des Songs erleben, auch beim wiederholten Hören! Vorher sagte ich, dass eine gefühlte „Unsterblichkeit“ im Hörerleben nicht meine Hauptfrage ist. Sie könnte aber verständlich machen, wie Musikwerke, wenn sie schon von sich her Lebendigkeit und Seele sind, auch unsere Lebensgeister in Schwingung bringen und jung halten.
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