Das Leben in einer Massenunterkunft – ein Erfahrungsbericht
Wir sind fast Nachbarn. Ein paar hundert Meter von meinem Wohn- und Arbeitsort entfernt liegt eine große Sammelunterkunft, das „Camp“ Mannheimer Straße in Ludwigshafen. Fünf Jahre lang hat mein Gesprächspartner dort gelebt. Seinen richtigen Namen möchte er für diesen Text nicht nennen – zu groß ist seine Angst, Ärger mit der Stadt und den Behörden zu bekommen. Nennen wir ihn also Mivan.
Mivan war in seiner Heimat Syrien Mathematiklehrer am Gymnasium und Dozent an der Universität. Schon haben wir etwas Gemeinsames: Auch ich bin Mathematiker und im Bildungswesen tätig. Nach seiner Ankunft in Deutschland im September 2015 hat Mivan zwar die Landessprache gelernt, konnte aber bislang noch keine angemessene Stelle antreten. Schon lange ist klar, dass er hierbleiben wird. 13 von 23 Millionen Syrern haben ihr Land verlassen, die zuhause Übriggebliebenen leben in Armut und Unterdrückung.
Gestrandete aus aller Gewaltherren Länder
Im Januar 2021 hat Mivan endlich eine eigene Wohnung gefunden. „Nach sechs Jahren kann ich endlich wieder nachts schlafen“, sagt er. Fünf der letzten Jahre hat er im „Camp“ Mannheimer Straße gelebt, das aus drei einstöckigen Häuser mit 150 bis 250 Bewohnern besteht. Darin Gestrandete aus aller Gewaltherren Länder.
Hier wohnen nur Männer. Gottseidank. Frauen haben erwiesenermaßen in solchen Einrichtungen unter Gewalt zu leiden. Der Ausfall eines Privatbereichs trifft auch das andere Geschlecht: Man wohnt hier sehr dicht aufeinander, Drogen werden konsumiert, Lärm gibt es den ganzen Tag. Körperlich und psychisch kranke Personen im Haus haben noch zusätzliche Probleme.
Es gibt keine Stelle, die bei der Wohnungssuche behilflich ist.
Seit in der Corona-Krise die Willkommenscafés und Beratungsstellen geschlossen wurden, ist es noch schwieriger, einen Coach für die Wohnungssuche zu finden. Wer nicht gesund ist, findet noch viel weniger etwas auf dem freien Wohnungsmarkt als die vielen Bewohner, die eine feste Arbeitsstelle haben – meist ungelernte Tätigkeiten.
Willkür und untragbare Hygienebedingungen
Inzwischen haben manche Bewohner Einzelzimmer. Die Regel ist freilich, mit jemand zusammenzuwohnen, den man erst bei der Zuteilung des Wohnraumes kennengelernt hat. Küchen, Bäder und WCs sind Gemeinschaftsräume, gedacht für kleinere Wohngruppen, die aber nicht räumlich abgegrenzt sind. Nur die Zimmer sind abschließbar. Auch wenn es Aktionen gibt, dass die Hausmeister alle Türen morgens um 8 Uhr aufsperren. Mivan und viele Mitbewohner empfinden das als Willkür und fühlen sich erniedrigt.
Ein ansässiger Bürgerverein „Respekt: Menschen!“ leistet Anwaltschaft für die Männer. Sie sehen, dass die Küchen nicht gefliest sind. Sie monieren das Ungeziefer, das ich am liebsten übersehen würde. Die Hygienebedingungen im Haus sind untragbar. Die Aktivisten im Verein haken immer wieder bei der Stadt nach, nicht immer will man sie hören. Am Tag des Ehrenamtes 2019 streichen viele zusammen mit den Hausbewohnern die Hausgänge frisch.
Warum die Bewohner nicht selber Hygiene halten können, wird in der öffentlichen Debatte gefragt. Wer genauer hinsieht, entdeckt das strukturelle Problem. Eine gereinigte Toilette wird nicht nur von denen benutzt, die sie sauber halten. Im Probeversuch erhielten Bewohner ein Taschengeld, wenn sie saubermachten. Sie wurden von den Anderen von oben herab angesehen. Eine Zeitlang beauftragte die Stadt einen Reinigungsdienst. Die Ehrenamtlichen kämpfen dafür, dass die städtischen Stellen das strukturelle Problem entschlossener angehen. Es bräuchte Anleitung, organisatorische Unterstützung, gute Ausrüstung und Rückenstärkung für die Bewohner.
Quarantäne verschärft die Situation
In der ersten Corona-Welle wird das Virus bei zwei Hausbewohnern diagnostiziert. Über einen Monat steht das Haus unter Quarantäne, niemand darf es verlassen, niemand darf hinein.
Ich dachte mir: Freiheitsberaubung!
Menschen im Gefängnis haben es besser.
Ich habe öfter beim Vorbeiradeln gesehen, wie städtische Mitarbeiter und Caterer die Menschen dort mit einer warmen Mahlzeit versorgt haben. Dass es intern Phasen gab, wo Menschen mit einer speziellen Diät ihre liebe Not hatten, muss ich mir erzählen lassen. „Die ganze Zeit war Katastrophe“ sagt Mivan. „Eine Woche gab es kein warmes Wasser.“
Es kommt vor, dass die Leute sich ihr Essen im eigenen Zimmer kochen. Als es dabei einmal zum Brand kam, waren in den ganzen drei Häusern zwei funktionierende Feuerlöscher. Es gab einen großen Brand, der nicht hätte sein müssen.
Kein Vertrauen in städtische Angestellten
Phasenweise sind viele Waschmaschinen kaputt, eine Zeitlang funktionierte nur eine einzige. Ein Montagedienst kommt, er nimmt die funktionierende Maschine mit, die kaputten lässt er stehen.
Zu nur wenigen städtischen Angestellten, die ins Camp kommen, haben die Hausbewohner Vertrauen.
Mivan erinnert sich, dass er 2017 mit vielen Mitbewohnern einen Brief an die Hausverwaltung geschrieben hat. Er fühlt sich bis heute ungehört.
Ein städtischer Mitarbeiter verspricht einem krebskranken Hausbewohner, der mit starken Schmerzen am Boden kauert, dass in zwanzig Minuten ein Krankenwagen da ist. Am nächsten Tag sitzt der Kranke immer noch am selben Platz. Dann wird endlich der Notarzt gerufen. Mivan zeigt mir auf seinem Handy Fotos davon. Er hat den Kranken später nicht mehr gesehen und nicht mitbekommen, was aus ihm wurde.
Streitschlichter
Natürlich kam es zu Auseinandersetzungen unter Mitbewohnern, es lohnt sich, nicht aufzufallen. Aber ich selbst habe schon vor Corona beobachtet, wie es einen wunderbaren Streitschlichter unter den Geflüchteten gab, M.I.: Ohne ihre Sprache zu sprechen kann er dazwischengehen, wenn zwei zu raufen beginnen, und bringt sie auseinander.
Im Juni stirbt im Camp ein 42-jährige Mann, der vor Wochen von Corona infiziert, aber symptomfrei war. Mivan sieht den Leichnam und wie man ihn wegbringt. Durch ihn bekommen Ehrenamtliche von dem Todesfall mit. Wir sind mindestens zehn Einheimische bei seiner Beerdigung in Mannheim, darunter zwei Krankenschwestern, die ihn von einem Aufenthalt aus der Klinik kannten. Als vor zwei Jahren jemand anderes in der Mannheimerstraße verstorben ist, hat es niemand von uns Einheimischen mitbekommen.
Hoffnung auf eine bessere Zukunft
Für Mivan ist vieles besser geworden. Er hat sich die zwölf Tage, in denen die Unterkunft in der Mannheimerstraße im Februar 2021 noch einmal wegen Corona-Fällen abgeriegelt war, sparen können. Ohnehin hat er die Virusinfektion schon letztes Jahr überstanden. Jetzt in der eigenen Wohnung kann er gut für eine Prüfung lernen. Wenn alles klappt, kann er sich für eine angemessene Stelle als Mathematiker bewerben.