Stefan Weigand über einen unterschätzten Designklassiker
Postkisten haben bereits die Mondlandung erlebt und beherbergen nicht nur Briefe und Zeitungen, sondern auch mal Tomatenpflanzen und Schallplattensammlungen. Mehr als ein halbes Jahrhundert sind sie unverändert: Wenn ein Alltagsgegenstand so eine Beständigkeit hat, dann ist da vieles richtig an der Gestaltung. Stefan Weigand wirft einen Blick auf die Transportboxen, die weit mehr sind als nur gelbe Kisten.
Wer mal einen Tag lang die Augen nach gelben Gegenständen offenhält, der bemerkt: So viele Dinge gibt es gar nicht, die komplett in dieser strahlenden Farbe gestaltet sind. Silberne Autos, blaue Busse, rote Züge oder einfach graue Wände sind wesentlich mehr verbreitet. Umso mehr fallen deshalb die »gelben Kisten« auf, die die Post verwendet, um Briefsendungen sicher und wohlbehalten quer durchs Land zu befördern.
Von der Grundfläche her nur ein bisschen größer als ein DIN-A4-Blatt gibt es sie in zwei Größen: Niedrig und hoch. Die Kisten sind leicht, irgendwie nicht totzukriegen und bieten Griffe, die so geformt sind, dass sie das Tragen unheimlich leicht machen.
»Nestbarkeit«
Deckel und Trennfächer gibt es als Zubehör, die Bruchsicherheit und Schlagfestigkeit im Temperaturbereich zwischen –20 °C und +50 °C ist garantiert. Beim Stöbern und Nachforschen in der offiziellen Beschreibung fiel mir das Wort »Nestbarkeit« ins Auge. Das bedeutet, dass sich die Kisten normal aufeinander stapeln lassen und so ihren Inhalt schützen; oder eben leer ineinander gestapelt werden können – das führt dann zu 40 Prozent Ersparnis beim Platzbedarf.
Eigentum der Deutschen Post AG«: Der Aufdruck sagt eigentlich klipp und klar, wem die Behälter gehören und dass sich ihr Einsatzzweck auf Postwege beschränkt.
Der natürliche Lebensraum der gelben Kisten: Überall wo Briefsendungen befördert werden sollen. Doch die Vielfalt der anderen Verwendungsmöglichkeiten ist viel zu verführerisch, als sie nicht in die Tat umzusetzen.
So haben sich die Kisten zum inoffiziellen Aufbewahrungssystem in fast jeder Amtsstube etabliert. Alte Locher, Druckertoner oder irgendein Krimskrams steht dann sicher verwahrt in einer der gelben Kisten. Künstler vertrauen in ihrem Atelier den Kisten Farbflaschen oder Pinselsammlungen an. Auf einem Pferdehof habe ich darin das Putzzeug für die Tiere entdeckt. Und angeblich sind sie so etwas wie ein Geheimtipp für Balkongärtner: Die hohe Version der Kisten ist ein idealer Ort, um Tomatenpflanzen zu züchten.
Klassiker des Industriedesigns gemacht für Euerbach, Abersfeld und Löffelsterz
Vielleicht bin ich etwas voreingenommen, weil ich mehrere Sommer meines Lebens viel mit den Kisten zu tun hatte: Als Landzusteller habe ich in den Ferien Post ausgetragen und täglich Kisten gestapelt, umgeordnet und geleert, bis schließlich die Post in den Briefkästen von Euerbach, Abersfeld oder Löffelsterz lag, und nicht mehr in den Kisten. Ganz unabhängig von dieser Erfahrung bin ich überzeugt: Wenn es so etwas gibt wie Klassiker des Industriedesigns, dann sollte man die Kisten unbedingt dazu zählen. Kompakt, schnörkellos und auf das Wesentliche reduziert.
Tatsächlich schaffen sie das Kunststück, dass sie sich seit einem halben Jahrhundert kaum verändert haben. Allenfalls die besagte Farbe wechselte – vom bürokratie-verpflichteten Grau der alten Bundespost zum selbstbewussten Gelb der Post AG. So ein halbes Jahrhundert ist ganz schön lang, wenn man allein schaut, wie sich Telefone in dieser Zeit verändert haben. Von großen Apparaten, die auf Poststuben hingen, über klobig-schweren Wählscheiben-Telefonen, Tasten-Versionen und schließlich schnurlosen Mobilteilen. Oder welcher Wandel das Automobil-Design in derselben Zeit genommen hat …
Trotzdem hat die Form der Kisten schon die Landung der Menschen auf dem Mond miterlebt; Erstausgaben von ABBA-Schallplatten wurden darin beherbergt oder so manche Postkarte, die über den Fall der Mauer jubelt, transportiert. Das alles, ohne das jemals die Form zur Debatte stand.
Woran man erkennt, dass Gestaltung perfekt ist? Man muss sie nicht ändern. Jahrzehntelang. Solche Dinge Sie schenken dem Alltag Vertrautheit, beantworten Fragen so, dass man sie gar nicht mehr stellen muss. Sie entkräften die Hektik des Immerneuen. Es sind Gegenstände, die in unserer schnelllebigen Zeit irgendwie Trost spenden: Weil sie zeigen, dass es Dinge gibt, die einfach so bleiben können, wie sie sind. Einfach gut.
Wunder warten überall
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch »Wunder warten überall.Die Wiederentdeckung der einfachen Dinge«
Wir brauchen nicht immer mehr, nicht einmal viel, sondern vor allem eins: das Richtige. Gerade durch die einfachen Dinge im Leben erfahren wir Klarheit und Ausgeglichenheit. Der Bleistift, der uns schon ein halbes Leben begleitet. Die selbst eingekochte Marmelade, die uns neu den Wert von Ernten und Jahreszeiten vor Augen führt. Der Spaziergang im Frühling, der Geruch nach Erde und das plötzliche Gefühl von Aufbruch.
Dieses Buch ermutigt mit sinnlicher Gestaltung, seinen Lebensstil auf das Wesentliche zu fokussieren und dem einfachen Leben neu zu vertrauen.
Fotos: © Stefan Weigand