Sinn  

Im Blaulicht der Einsamkeit

Eine Novelle

Heute morgen erwacht mit dem Gefühl völliger Verlassenheit, völliger Einsamkeit. So wird es bleiben, niemand wird hier sein. An einer Decke, die einem auf den Kopf fällt, kann man sich nicht festhalten. Eine Bettdecke kann man über sich ziehen, aber dann wird die Luft dünn.

Nach der Geburt soll man mich, wie mir erzählt wurde, wegen einer Komplikation sofort von meiner Mutter getrennt haben, für einige Tage. Manchmal denke ich, so habe ich es verpasst, Teil der Menschenwelt zu werden. Man hat mich zu früh getrennt. In mir ist viel Liebe, aber meist werde ich allein wach. Ich denke mir den Arm aus, der sich um mich legt, ich fühle eine warme Hand auf meiner Schulter. Ich sehe ins Blaulicht von Sprachnachrichten, die noch nicht abgehört sind. Es sind aber nur die, die ich abgesendet habe, bisher ungehört. Das Geben ist wichtiger als das Nehmen.

Dieses Blaulicht ist der Beweis für eine Gegenwart, in der zwischen meinem Herz und der Liebe nur ein Ladekabel baumelt.

Die eine Seite steckt in der Steckdose, aber mir hat man den Stecker gezogen. Es sind vorübergehende Gefühle und sie haben vielleicht auch außerhalb meiner Seele keine Realität. Die Seele selbst hat keine Realität, da ist eine Leere, die sich anfühlt, wie ein Ich. Das wird allein wach. Das wird allein geboren. Das wird allein sterben. Es begründet die Freiheit und beweist, dass man mich in dieser Existenz vergessen hat, dass die Geburt einer Entführung gleicht. Ich stecke das Kabel wieder in mein Telefon und langsam erwacht es zu leben, das vertraute Blaulicht trifft mein Auge.

Der vertraute Signalton trifft mein Ohr. Ich bin allein, aber nicht einsam, da ist ja jemand, der an mich gedacht hat – oder doch nur an den Patti Smith-Song, den ich gepostet hatte gestern Nacht.

Berzbach Frank Nacht Novelle

Jemand hat ihn am Morgen gesehen und statt die Hand auf meine Schulter zu legen, legt er den Finger auf ein kleines Herz und ein Signalton ist bei mir zu hören. Er dringt in mein Ohr, aber von meinem Herz prallt er ab. Er beruhigt mich von außen, aber mein Herz bleibt taub. Hebt das die Einsamkeit auf? Es ist besser als nichts. Die Existenz insgesamt ist besser als nichts. Und sie wird im Nichts enden, denke ich.  

Ich habe Albträume, in denen ich allein bin. Und ich habe mir vorgenommen, die Bühne des Unbewussten kurzzeitig zu sperren. Auf ihr gibt es nicht nur Thanatos, wo ist Eros hin? Ich erträume mir eine zweite Bühne. »Dann bist du nicht gläubig«, sagt jemand, der mich in diesem neuen Traum liebt, es gibt keinen Zweifel. Das ist so ein Satz, der ist so wahr dass er in mir einen Ton erzeugt. Mein Gegentraum klingt wie die Liebe. Es ist kein Signalton, sondern der einer alten Klangschale, die eine schönen Frau anschlägt. Ich steige nachts in den Bus meines Albtraums, bei Schneeregen. Er ist leer, niemand steigt ein. Ich komme nie wieder heraus aus diesem Bus, er rast durch den Regen, er ist nicht geheizt, so fühlt sich das leere zu große Bett an. Aber nicht immer. Ich steige nachts in den Bus. Schneeregen, der Bus ist sauber und ich bin der einzige Gast. Der Fahrer wirkt einsam vorn in seiner kleinen Ecke, aber er lächelt.

Wir müssen an den Haltestellen einige Minuten warten, weil ohne Gäste ist man immer zu früh. Der große Scheibenwischer klärt die Sicht. Ich bin auch zu früh, noch im Traum, das gute Ende fehlt noch, ich darf nicht vorher erwachen.

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Ich drücke irgendwann auf den Knopf, ich bin auf dem Weg zu dem Geist, der mir gesagt hat, wenn ich mich verlassen fühlte und mich dem zu sehr hingebe, sei ich nicht gläubig. Gott ist da. Und er verlässt mich nicht, nur ich verlasse ihn in diesem unterdunkelten Gefühl der Einsamkeit. Ich werde nicht eins mit ihm, wenn ich so fühle. Der Busfahrer bringt mich also zu ihr und dann geschieht etwas, er dreht sich zu mir herum und sagt: Wohin wollen Sie, ich verlasse die Strecke, dieses Wetter, ich setze Sie vor der Tür ab. Er darf den Weg nicht verlassen, aber es stört ihn nicht, er setzt schon den Blinker und ich stoppe ihn, ich lege meinen Arm kurz auf seinen. Er nickt und öffnet die Tür.

Er hätte die Strecke für mich verlassen, der Schnee fällt seicht in die geöffnete Bustür. Der Fahrer hat die Einsamkeit einfach aufgehoben zwischen uns. Wir sind nicht zwei einsame Männer in einem nächtlichen Bus, wir sind zwei verbundene Geschöpfe; er hat einen heiligen Moment erzeugt, an den ich mich erinnere, allein im Bett, nach meinem Albtraum. Es gibt diesen Mann irgendwo, der nachts seine Pflicht verletzen wollte, um mich bei jemandem abzusetzen, der mich liebt und mir sagt, dass ich geliebt bin, dass ich grundsätzlich geliebt bin.

Ich glaube an Engel, manche fahren Bus.

Die Tür ist auf, ich gehe einfach hinein. Kerzen brennen. Ich steige in eine warme Badewanne und bin nie wieder allein, ganz egal wo ich bin.

Ich erhebe das Glas Wein, wir stoßen an, wir erheben den Augenblick und der Winter in uns ist nicht mehr vorhanden. Man hat mich nach der Geburt getrennt von meiner Mutter, aber niemand mehr trennt mich von einem Engel, der in einem Bus mitgefahren ist, der seine Strecke für die unbedingte Liebe verlassen hätte. Ich richte mich auf, streiche die Bettdecke gerade und hinter dem Blau der Sprachnachrichten höre ich gar nicht meine Stimme, sondern die eines Menschen, der mir einen guten Morgen wünscht. Das ist ein guter Morgen, es lag nur ein Abgrund dazwischen, eine Gletscherspalte im Gebirge der Albträume meiner Seele, an der ich entlang gehen musste. Es gab diesen Wink, ich sollte hinabstürzen. Dazu hatte ich aber keine Zeit mehr, weil die richtige Erinnerung kam, wie ein Gegengift, weil eine Stimme kam, wie ein Anker, weil ich geliebt werde, selbst wenn niemand da ist.

Dann glaubst du, und zwischen den Zeilen der Stimme ist ein Lächeln zu hören. Ich lächle, nach Albträumen, aber ich fühle und sehe, wie die Sonne in mir aufgeht. Sie strahlt hell und warm. Für mich, den Busfahrer, den Engel – und den Menschen, der meinen Glauben auf die Probe gestellt hat. Heute morgen habe ich sie bestanden.

Fotos: © duftomat/photocase.com, © Jonathan Schöps/photocase.com, © privat


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