Gedanken von Klaus Mertes SJ über Prinzipien freiheitlicher Persönlichkeitsbildung und Humanismus Plus
1. Nutzenparadox
Wir möchten eine Debatte anstoßen zu Sinn und Zweck von Bildung. Dabei ist der Begriff „Zweck“ eigentlich schon ein Teil des Problems – und damit auch der Lösung. Denn nach unserer Auffassung erfüllt Bildung, die diesen Namen verdient, nur dann ihre Zwecke, wenn sie sich als Selbstzweck versteht. Ich möchte das an dem deutlich machen, was wir in unserer Tradition das Nutzen- oder auch Sabbatparadox nennen. Das Wort „Schule“ kommt bekanntlich von griechisch „schole“, lateinisch „otium“, und bedeutet „Muße“. Muße ist ein Privileg derer, die nicht unter dem Diktat der Arbeit stehen. Schulbesuch ist also ein Ausdruck von Freiheit.
Schülerinnen und Schüler mögen das – insbesondere unter der Voraussetzung der Schulpflicht – nicht immer so sehen, doch wer die Alternativen recht bedenkt, wird das schnell begreifen. In der biblischen Tradition war es der Sabbat, an dem das ganze Volk vom Diktat der Arbeit, vom Regiment des Nutzens frei sein sollte, auch die Fremden, die Sklaven, ja sogar das Nutzvieh.
Der Sabbat ist sozusagen der Schultag schlechthin, der Tag der Muße. Daraus ergibt sich das Paradox: Der Sabbat nutzt, weil er nicht nutzt – er ist nicht unnütz, sondern „übernützlich“ (Thomas Mann). Das gilt auch für Schule, sofern sie sich im Sinne von „Humanismus Plus“ versteht. Das Wort „Plus“ ist für uns nicht bloß ein Zusatz zu „Humanismus“, sondern vielmehr ist unserer Meinung nach Humanismus gar nicht ohne dieses Plus denkbar.
Das „Plus“ steht für das „Übernützliche“, das Spirituelle, oder auch: Die Frage nach Gott, die wir bewusst als Frage verstehen.
Welche Bedeutung das gemeinsame Musizieren hat
Beispiel: Ein ehemaliger Schüler ist nach Abitur und Studium erfolgreicher Unternehmer geworden, hat große Karriere gemacht und ist in den letzten Jahren bei der Ausbildung von Führungspersonal in der Wirtschaft tätig gewesen – mit erheblicher Breitenwirkung und Prominenz. Nun hatte ihn kurz vor Vollendung seines 65. Lebensjahres die Diagnose Krebs erreicht. Auf seinem Krankenbett liegend erinnert er sich an seine alte Schule und denkt darüber nach, was ihm in seiner Schulzeit für seine erfolgreiche Karriere am meisten gegeben hat. Dies teilt er dem Schulleiter in einem langen Brief mit.
Es war, wie er schreibt, vor allem das Schulorchester. Dort hatte er gelernt zuzuhören, sich einzuordnen, zum richtigen Zeitpunkt hervorzutreten, Geduld zu haben, sorgfältig zu sein, Qualitätskriterien zu entwickeln, zu üben, zu improvisieren, öffentlich aufzutreten, mit Lampenfieber umzugehen, andere mitzureißen, sich von anderen mitreißen zu lassen.
Der Brief ist eine Hymne an die erzieherische Bedeutung des gemeinsamen Musizierens, eine Hymne an den Nutzen des Nutzlosen im Sinne des Selbstzwecklichen. Hätte der jungen Schüler Orchester gespielt mit dem Ziel, die beschriebenen Kompetenzen zu erwerben, hätte er sie nicht erworben. Das ist das Nutzenparadox: Das Übernützliche nützt nur, wenn man es nicht wegen des Nutzens anstrebt.
2. Markt und Menschheit
PISA und das Bildungskonzept der OECD leben vom Begriff der „Kompetenzen“. Der Sinn dieses Konzeptes besteht darin, internationale Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Der Preis ist die inhaltliche Leere. So kann man dann die Leistung chinesischer Schüler mit denen europäischer Schüler vergleichen. Doch unter welcher inhaltlichen Rücksicht erfolgt dann die Bewertung der Ergebnisse aus dem Vergleich? Am Ende bleibt nur der globale Markt als Richter über die Güte des Bildungssystems übrig. Denn der Markt funktioniert tatsächlich global nach denselben Prinzipien. Er kann alle kulturellen Besonderheiten von Traditionen und Kulturen relativieren und sich ihrer im Fall der Fälle zu seinen Zwecken bedienen, indem er sie von seinem Standpunkt aus bewertet.
Die Menschheit als global relevantes Konzept
Die humanistische Tradition bietet – nicht erst seit Kant – ebenfalls ein global relevantes Konzept an: Die „Menschheit“. Das grundlegende Gütekriterium des Marktes ist ja das des wohlverstandenen Eigeninteresses. Bildungserfolg im Dienst des Marktes wäre dann die Fähigkeit, das wohlverstandene Eigeninteresse von Personen oder Nationen gut berechnen zu können.
Beim Humanismus ist das Gütekriterium schwieriger zu bestimmen. Grundlegend ist hier zunächst der Begriff der „Menschheit“: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck achtest.“ Oder einfacher ausgedrückt: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ An anderer Stelle sagt Kant lapidar: „Die Menschheit ist eine Würde“, mehr also als bloß ein Gattungsbegriff, sondern ein innerer Wert, ein Wert, der jeder einzelnen menschlichen Person zukommt und der sie mit allen anderen Menschen gleichstellt, und zwar – ähnlich wie beim wohlverstandenen Eigeninteresse – global und überkulturell. Die Kompetenz, diesen inneren Wert wahrzunehmen, könnte man dann „ästhetische Kompetenz“ nennen, Wahrnehmungs-Kompetenz.
Kann man Würde lehren?
Hier setzt eine Humanismus Plus-Pädagogik an: Es geht um die Frage, wie Kinder und Jugendliche lernen können, ihren inneren Wert wahrzunehmen, ihre Würde. Kann man das überhaupt lehren? Im Sinne einer humanistischen Pädagogik antworten wir mit: Ja, unter der Voraussetzung, dass die Würde nicht einfach ein Lerninhalt ist, der von außen, also von der Lehrperson, nach innen, in den Schüler oder die Schülerin hineingegeben wird.
Vielmehr geht es letztlich darum, pädagogisches Handeln so zu durchdenken, dass ein Raum entsteht, in dem ein junger Mensch selbst seine Würde, seinen inneren Wert entdecken kann. Das ist die Ur-Inspiration der jesuitisch-ignatianischen Exerzitien, aber lange nicht nur ihrer.
Würde, die nicht selbst entdeckt ist, ist nicht Würde,
sondern nur ein Wort.
Jeder Akt des Selbst-Entdeckens ist zugleich schon der erste Vollzug der Würde, selbst dann, wenn ein junger Mensch das noch nicht so ausdrücken und begreifen kann. Wir nennen die „ästhetische Kompetenz“ auch Kompetenz der „Reflexion“ und sagen: Kinder und Jugendlichen sollen in unseren Schulen lernen, über die Bedeutung des Gelernten zu reflektieren – um selbst zu Erkenntnissen zu kommen.
3. Stille
Ich möchte das auf die Praxis hin zuspitzen. Die Aufgabe der Schule besteht vor dem Hintergrund des Gesagten in der Hinführung zu Verinnerlichung, in der Hinführung des Subjektes zur inneren Wahrnehmung. Man kann das üben.
Als der Berliner Schulsenator im September 2001 für alle Schulen in Berlin eine Schweigeminute im Gedenken an die Opfer der Anschläge von 9/11 anordnete, regte sich in den Schulen Widerstand. Das Vorhaben würde die Schülerinnen und Schüler überfordern, so der Tenor. In der Öffentlichkeit waren daraufhin empörte Stimmen zu hören, nach dem Motto: „Das muss doch möglich sein. Nur eine Minute.“ Doch wer so redet, hat keine Ahnung weder von der Kraft noch von der Verletzlichkeit von Riten, von Stille und von gemeinsamen existenziellen Erfahrungen.
In volkskirchlich geprägten Zeiten durften kirchliche Schulen damit rechnen, dass die religiösen Riten bei den Jugendlichen eingeübt waren und deswegen auch in homogen besetzten Kitas und Schulen praktiziert werden konnten. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Auch die kirchlich getragenen Institutionen spiegeln heute immer mehr in den eigenen Reihen die Vielfalt in der Gesellschaft wider, weltanschaulich, kulturell, religiös. Humanismus Plus geht auf diese Situation ein.
Gemeinsame Stille zu unterschiedlichsten Anlässen ist ein Merkmal ignatianischer Pädagogik
Die Erfahrung gemeinsamer Stille kann eine Schulkultur sehr tief und positiv prägen, sie humanisieren, wenn sie denn tatsächlich eingeübt ist und nicht bloß bei besonderen Gelegenheiten mit Peitschenknall und autoritärem Gebrüll durchgesetzt werden muss.
Stille ist mehr als äußerliches Schweigen. Sie ist eine innere Erfahrung. Sie öffnet für die innere Erfahrung. Sie ist in diesem Sinne der Anfang der Herzensbildung, Anfang aller Charakterbildung.
Sie funktioniert als Element der Schulkultur aber nur, wenn sie eingeübt wird, und das bedeutet, wenn sie ritualisiert wird. Als Element dieser Kultur ist sie dann aber auch ganz wesentlich eine Erfahrung von gemeinsamem Schweigen. Stille in einem leeren Raum klingt anders als Stille in einem mit Menschen gefüllten Raum, die sich gemeinsam der Stille öffnen. Es kommt dann zur Öffnung nach innen die Öffnung nach außen hinzu, in den mit Stille gefüllten Raum, eine starke Erfahrung von Zugehörigkeit und Solidarität.
Stille öffnet fürs Hören
Eine Kultur des Hörens ist unverzichtbarer Aspekt einer humanen Schulkultur. Hören als Kompetenz ist mehr als bloß äußerliches Anhören von richtigen und falschen Antworten oder von Stichworten, die dem eigenen Sprechen Anlass bieten, das zu sagen, was man schon immer sagen wollte. Die Kompetenz will durch Übung erworben werden, etwa durch tägliche kleine Übungen, die darin bestehen, zwischen dem Hören und dem eigenen Sprechen eine Stille einzulegen, die Reflexion auf das Gehörte überhaupt erst ermöglicht. Zur Umsetzung liegen mannigfaltige Vorschläge vor. Sie entsprechen einem Kommunikationsverständnis, wie es zum Beispiel auch in der „Resonanzpädagogik“ entfaltet wird.
In der Stille werden innere Bewegungen entdeckt, die im Fall der Fälle auch zum Ausdruck drängen und gerade auch das „plus“ in Worte fassen wollen. Das kann ein Gebet in der eigenen religiösen Sprache sein, das kann aber auch eine wortlose Melodie oder ein Handlungsimpuls sein, der außerhalb des rituellen Schweigens ausgeführt werden will. Ein wichtiges Medium für einen gemeinsamen Ausdruck innerer Bewegungen ist gemeinsamer Gesang. Je pluraler Schülerschaft und Kollegium zusammengesetzt sind, umso angemessener wird es sein, dass verwendete Gesangstexte inklusiv formuliert sind, zum Beispiel indem auf der Textebene nur das Wort „Shalom“, „Friede“ oder „Salam“ wiederholt wird. Die Qualität von solchen Gesängen kann sich durch eine ganze Lebensgeschichte hindurch bis in die eigene Todesstunde hinein bewähren.
Die Bedeutung von Humanismus Plus auf den Punkt gebracht
Das säkularistische Selbstmissverständnisses besteht in einem „ausgrenzenden Humanismus“ (Charles Taylor), der keinen Raum lässt für Formen spiritueller Lebensführung in der Gegenwart. Das erweist sich gerade in der Schule und in der Bildungskonzeption als ein Problem, ganz konkret dann, wenn Jugendliche mit ihren selbsttranszendierenden inneren Bewegungen Bekanntschaft machen. Humanismus Plus meint, dass dies nicht nur ein Thema für den Religionsunterricht ist, sondern ein gesellschaftliches Thema, das alle Schulträger angeht: Welche Vorstellung von Bildung haben wir, und was wollen wir eigentlich unseren Kindern für die Zukunft mitgeben.
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Noch Fragen?
Zum weiteren Hintergrund weisen wir Sie beispielhaft auf die mittlerweile dritte Veranstaltung der Salon-Reihe „HumanismusPlus“ im September 2021 hin. Unter dem Titel „Gute Bildung stellt die Frage nach Gott – aber wie?“ diskutierten Prof. Michael N. Ebertz von der Katholischen Hochschule Freiburg, Dr. Thomas Rucker vom Institut für Erziehungswissenschaft Bern und Tobias Zimmermann SJ, Leiter des ZIP in Ludwigshafen. Hier können Sie sich die Aufzeichnung anschauen: