Neu gelesen: „Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ und ihre Bedeutung für die deutsche Außenpolitik.
Seit einigen Jahren agiert Russland unter Präsident Putin außenpolitisch deutlich aggressiver, davon zeugt nicht zuletzt die Annexion der Krim. In außenpolitisch brisanten Zeiten lohnt es sich, James Hawes „Kürzeste Geschichte Deutschlands“ noch einmal zu lesen. Wo liegt Deutschland? Was sagt die Geschichte über die außenpolitische Lage unseres Landes? Hawes blickt in dem 2019 erschienenen Buch in einem großen Panorama zurück auf die deutsche Geschichte – und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis, das auch für die Zukunft Bedeutung haben könnte …
Hat unser Land in Mitteleuropa womöglich mehr Gemeinsamkeiten mit Russland als mit Frankreich oder Großbritannien? James Hawes geht zurück bis zum Jahr 58 v. Chr. und erklärt Zusammenhänge bis zum Erscheinungsjahr 2019. Seine These: Deutschland, und damit meint er vornehmlich den Westen des Landes, gehört zur westlichen Welt. Den römischen Limes und die Elbe identifiziert er als jahrhundertealte Grenzen, die für ihn bis heute gelten. Er verdeutlicht das mit einer langen Tradition, die im Frankenreich begann und sich bis heute noch nachweisen lässt – unter anderem an den unterschiedlichen Wahlergebnissen der AfD. „Ostelbien“ ist für Hawes ein Gebiet, das nie zum westlichen Europa gehörte.
Schon Caesar und Otto der Große scheiterten daran, den Osten jenseits der Elbe gewaltsam zu beherrschen.
Hawes zieht diese Linie bis in die jüngere Geschichte: Weder die Reichseinigung 1871 noch die Wiedervereinigung sind für ihn echte „Vereinigungen“: „Selbst zwei Billionen Euro [nach 1990] können nicht zusammenführen, was zweitausend Jahre Geschichte auseinandergehalten haben“, schreibt der promovierte Germanist und Dozent.
Herrschaft Preußens war ohne einende Kraft
Natürlich lässt sich fragen: Was war mit der Preußen-Herrschaft, die ab 1871 begann? Integrierte diese nicht den östlichen Teil des heutigen Deutschlands? Hier unterscheidet Hawes streng: zwischen Preußen und Deutschland. Die Herrschaft Preußens bezeichnet er als „Anomalie“ und „Deformation“. Ab 1814 sei es „hochgezüchtet“ worden, weil ihm Rheinland und Sachsen zugeschlagen wurden. Die preußischen Junker – Landadlige auf fremdem Land im heutigen Polen und Tschechien – sieht Hawes als Kolonisten im Osten Europas, deren Autoritarismus und Nationalismus den süd- und westdeutschen Herrschern gegenübersteht. Letztere wurden dann von den Preußen eingegliedert.
Sehr erhellend finde ich als Historiker, wie Hawes den Aufstieg Hitlers erklärt. Zentral ist für ihn, dass Hitler zum großen Teil von Protestanten und den preußischen Junkern unterstützt wurde. Noch heute haben rechte Parteien mehr Zulauf unter Evangelischen.
Der Engländer kommt zu einem klaren Fazit: „Dieses Deutschland ist Europas große Hoffnung. Es muss jetzt handeln, und es muss jetzt als das Land anerkannt werden, das seine Bestimmung endlich erfüllt: ein mächtiges Land im Herzen des Westens zu sein.“
Frankreich und Großbritannien sind uns näher als Russland
Deutschland gehört nach Hawes zum Westen – mit seiner Tradition, seiner Kultur und seinen Grenzen. Auch in Zeiten von Brexit und EU-Verdrossenheit ist das eine Erkenntnis, die gerade im Ukraine-Konflikt und den Verhandlungen mit Russland wegweisend für die Zukunft sein könnte.
Hawes wird vorgeworfen, in seinem Buch zu einseitig vorzugehen. Das finde ich aber angesichts der Länge nicht besonders verwunderlich. Der Titel ist wohl auch eher augenzwinkernd gemeint. Nicht alles am pointierten Stil muss dem Leser gefallen, dennoch empfehle ich das kompakte Buch jedem als Einführungswerk, der sich für die deutsche Geschichte interessiert. Hawes ist ein erfrischendes Werk über die deutsche Geschichte gelungen, das dem Leser aus der Außenperspektive den Spiegel vorhält.
„Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ von James Hawes ist 2019 zum Preis von 10 Euro erscheinen (Ullstein, 328 Seiten, ISBN: 3548060439).
Foto © Wunderlich und Weigand