Sinn  

Haltlos glücklich?!

Gedanken über die Licht-Installation von James Turrell in Freising

Wer die Licht-Installation im Freisinger Diözesanmuseum besichtigen will, sucht bereits vor dem Eintreten in die frühere Hauskapelle unweigerlich nach Halt: Die schmale Treppe hat kein Geländer. Was sich links und rechts von der Treppe befindet, ist kaum ersichtlich. Die Hand wünscht sich etwas zum Festhalten, die Füße tasten vorsichtig. Kaum hat man diese erste Verunsicherung sowie eine letzte Schwelle überwunden und den Raum betreten, ist man eingestimmt für die nächste, wichtigere Desorientierung. Nun suchen die Augen nach Halt, nach Anhaltspunkten für die Orientierung, jedoch vergeblich.

Im Alltag lässt uns Licht als Medium sehen, wie wir in einem Raum positioniert sind, wie weit Wände, Decken oder mögliche Objekte im Raum von uns entfernt sind. In diesem von Licht in wechselnden Farben durchfluteten Raum jedoch erschwert gerade das Licht das übliche Sich-Orientieren. Hier macht das Licht weniger anderes sichtbar, als dass es selbst sichtbar wird. Der dadurch weitgehend haltlos gewordene Blick mag uns Informationen vorenthalten, dadurch irritieren und desorientieren – zugleich jedoch sehen wir gerade dadurch die Welt neu, erfahren wir eine ungewohnte, sich der schnöden Vermessung entziehende Weite und Tiefe und erblicken wir die oft übersehene Schönheit des Lichts in all seinen Farben. Wir erleben nicht den „horror vacui“, der sich in entgrenzten Räumen durchaus einstellen kann, sondern tauchen ein in eine lichtvolle Fülle. Manche Besucher*innen sprechen gar von einer spirituellen Erfahrung – was ja durchaus anschlussfähig ist an alte Traditionen, das Transzendente und Gott lichtmetaphorisch oder gar lichtmetaphysisch zu verstehen. Kann diese besondere Erfahrung im außergewöhnlichen Kontext eines Museums etwas über das „gewöhnliche“ Leben sagen?

Welchen Halt brauchen wir?

Menschen suchen und brauchen Halt. Viele Treppen wären ohne Geländer gefährlich. Wenn die Augen keine Anhaltspunkte haben und sich der Blick im Ungefähren verliert, können wir vom Weg abkommen oder stürzen. Das Spielbein braucht ein Standbein auf sicherem Grund. Das Schiff auf offener See braucht Sterne, Sonne, Leuchttürme oder GPS-Daten als Anhaltspunkte zur Orientierung.

Turrell Freising Steinforth
© James Turrell, Photo by Florian Holzherr

Auch auf dem Lebensweg brauchen wir Halt und Anhaltspunkte.

Scheinbar paradox: Wer ein dynamisch-lebendiges Leben führen will, kann auf Halt nicht verzichten.

Ganz ohne Halt werden wir bewegt und getrieben, statt den eigenen Lebensweg zu gehen. Wir brauchen Anhaltspunkte zur existenziellen Orientierung und wir brauchen Halt, wenn alles drunter und drüber geht. Haltlosigkeit macht Angst – gerade in bewegten und krisenhaften Zeiten. Viele Menschen suchen (und finden) diesen so wichtigen Halt in Religion und Spiritualität, innerhalb und zunehmend auch außerhalb einer kirchlichen Einbindung. Allerdings: Auch hier ist die Unterscheidung der Geister gefragt!

Zum einen ist nicht alles wahr und gut, was Menschen Halt gibt. Auch Sekten geben Halt. Und der (auch innerkirchlich anzutreffende) Fundamentalismus mit seinen allzu einfachen und eindeutigen Antworten vermittelt ein wohliges Sicherheitsgefühl. Ein solcher Halt jedoch verengt und fixiert Denken und Glauben, nimmt dem Leben seine Lebendigkeit; das Geländer kann zum Käfig werden.

Geht es nur und immer um Halt?

Zum anderen scheint es mir wichtig zu sein, die Suche nach Halt nicht als zentrales oder gar einziges Motiv religiös-spirituellen Suchens zu verstehen bzw. nicht nur dieses Motiv zu bedienen. Wir kennen das vielleicht aus anderen Lebensbereichen: Mitunter kann es notwendig und sinnvoll sein, auf bislang bewährten Halt, Sicherheiten und Kontrolle zu verzichten und die routiniert verwendeten Anhaltspunkte des Verstehens, Deutens und Orientierens mal nicht heranzuziehen:

In der Auseinandersetzung mit Kunst etwa können sich neue Zugänge eröffnen, wenn wir unser geschultes Bescheid-Wissen loslassen und uns wirklich auf das einlassen, was uns da begegnet. Das kann in Deutungs- und Verstehenskrisen führen, aber auch – und gerade dadurch – eine ästhetische Erfahrung und ein Verstehen auf tieferer Ebene ermöglichen. Auch in der Begegnung mit Menschen ist es manchmal hilfreich, unser vermeintliches Wissen und unsere spontanen, einordnenden Urteile über den anderen Menschen zurückzustellen – damit auch Sicherheit versprechende Anhaltspunkte beiseitezulegen – und uns stattdessen in fragender Offenheit darauf einzulassen, was sich vom anderen Menschen her uns zeigen mag.

Kann es nicht aber auch in religiös-spirituellen Vollzügen notwendig und bereichernd sein, mal das hinter sich zu lassen, was uns bislang Halt und Orientierung gegeben hat?

Dazu können eigene Gottesbilder, Überzeugungen und Grundannahmen über sich selbst, das Leben und die Welt gehören. Nicht selten ist es keine freiwillige Entscheidung, Haltepunkte dieser Art in Frage zu stellen. Oft werden sie durch Ereignisse und Widerfahrnisse in Frage gestellt, was uns in existenzielle und auch spirituelle Krisen führen kann – verbunden mit dem Gefühl der Haltlosigkeit. Wie damit umgehen? Vielleicht (in aller Vorsicht formuliert) ist es manchmal ratsam, nicht sogleich nach dem ersten Geländer zu greifen, das mir wieder festen Halt verspricht. Mitunter kann das Loslassen bzw. Aushalten der Halt- und Ratlosigkeit uns ermöglichen, uns auf eine Wirklichkeit einzulassen, in ihr einzutauchen, uns von ihr involvieren und ergreifen zu lassen, in der wir uns nicht auskennen und in der wir nicht sogleich wieder Halt finden – und in der uns gerade dadurch vielleicht Augen und Herz aufgehen.

Auf den Geschmack kommen – und ins fragen

Sich durch Loslassen auf etwas einlassen zu können, setzt das (freilich unverfügbare) Ereignis voraus, dass sich uns etwas zeigt oder doch andeutet, in das wir uns einlassen können, und dass wir offen dafür sind. Wir müssen es wahrnehmen und uns davon anziehen lassen – auch wenn ein gewisses Wagnis und ein unsicheres Gehen ins Offene und Unbekannte damit verbunden ist.

© James Turrell, Photo by Florian Holzherr

Wer im Diözesanmuseum den Innenhof betritt, dem leuchtet aus dem Eingang der „Kapelle des heiligen Lukas“ ein geheimnisvolles Licht entgegen. Wer dies wahrnimmt, sich von der Attraktionskraft des Lichts anziehen lässt, dann die Treppe ohne Geländer hinaufsteigt und sich der Haltlosigkeit des Blicks im entgrenzten Raum aussetzt, kann die Erfahrung machen, sich durch Loslassen in eine unbekannte Wirklichkeit einzulassen und vielleicht sogar eine Weile „haltlos glücklich“ sein zu können.

Vielleicht kann diese sehr spezielle Erfahrung im musealen Raum auf den Geschmack bringen und uns dazu öffnen, ähnliche Erfahrungen auch außerhalb des Museums zu suchen. Wo begegnet uns etwas, das uns anzieht, obwohl oder gerade weil es geheimnisvoll ist und sich unseren üblichen Routinen des Wahrnehmens und Deutens entzieht? Wo und wie machen wir die Erfahrung, auf bekannten Halt zu verzichten, einzutauchen und umfangen zu sein (darin vielleicht eine ganz neue Weise des Gehalten-Seins zu erleben), und anhand welcher Kriterien bewerten wir, ob das eine gute Erfahrung ist? Fragen, in die das Kunstwerk hineinführt.

James Turrell im Diözesanmuseum Freising

Diözesanmuseum Freising

Die dauerhafte Lichtinstallation von James Turrell ist Dienstag bis Sonntag täglich von 11 bis 12 Uhr und von 14 bis 15 Uhr begehbar.

Titelbild und weitere Werkfotos: © James Turrell, Photo by Florian Holzherr
Foto vom Diözsanmuseum: © Diözesanmuseum Freising, Foto: Thomas Dashuber


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