Exerzititen Regina Laudage-Kleeberg

Versöhnung  

Gott hören

Exerzitien – mitten in der Corona-Zeit und Kirchenkrise. Regina Laudage-Kleeberg schreibt, wie sich das anfühlt

Exerzitien sind oft stille, spirituelle Tage. Dass sie aber auch Lebenslust und Alkohol beinhalten können, kenne ich noch nicht. Vor allem nicht in der Fastenzeit. Ein Aufatmen inmitten von Pandemie und Kirchenpolitik.

In der Sekunde, in der ich das Gepäck in Rolands Wohnung abstelle, fällt die Last ab. Er fragt: „Wollen wir zum Beginn deiner Exerzitien einen Sekt trinken?“ Selten war ich so überrascht, denn ich war zwar schon einige Male zum Schweigen allein im Kloster – aber mit Sekt und Lebensfreude war diese Einkehr nie verbunden. Mein Exerzitienbegleiter grinst. Und ich verstehe: Das werden andere Exerzitien als sonst. Dieser Priester begleitet mich anders.

Kirchenkrise

Ich komme frisch aus einer Welt, die im Kampf ist. Innerkirchlich sind wohl die tiefsten Gräben geöffnet, seit ich denken kann. Zentrale Personen kündigen ihren Austritt an, tausende Seelsorgende stellen sich offen gegen vatikanische Diskriminierung und wahrscheinlich ebenso viele bekommen Sanktionen angedroht, damit sie sich diesem pastoralen Ungehorsam nicht anschließen.

Die ganze katholische Kirche, und vor allem das Erzbistum Köln, steht auf dem Gipfel eines Müllbergs aus tradierten Machtkrusten, einer toxischen Familienlogik unter Brüdern, systemischer Menschenverachtung zum Schutz des Eigenen. Unten an diesem katholischen Müllberg stehen die Überlebenden: die, die ihre Vergewaltiger nicht zur Rechenschaft gezogen wissen, oder die, deren Liebe mit moralischer Überheblichkeit zur Sünde erklärt wird.

Einkehr

Wir trinken Sekt. Und besprechen den Rhythmus: wir werden morgens Eucharistie feiern, mittags Tischgemeinschaft halten und dann über meine Themen sprechen. Die restliche Zeit werde ich schweigen, gehen, ausruhen, schreiben und denken.

Roland feiert mit mir. In jedem Moment. Dass ich da bin, dass Gott mich liebt, meinen Facettenreichtum, meine Fragen. Wir stoßen an. Ich finde das immer noch verrückt, aber mir wird schnell klar: Du hast seit mindestens einem Jahr nicht mehr Gott gefeiert – mit solcher Lebensfreude, mit solcher Intensität.

Die vier Tage zeigen das, was in der Pandemie und im innerkirchlichen Kampf zu kurz gekommen ist: Die gute Nachricht von diesem differenzierenden, radikal lebenden und liebenden Gott. Der mit mir mein Leben liebevoll und tröstend betrachtet. Die gute Nachricht von Pausen: Von Jesus, der mitten in seinem vollen Alltag von Heilungen und Predigten an den See geht oder auf den Berg. Er zieht sich einfach zurück, um Gott zu hören, still zu werden, zu schlafen …

Hab ich noch nie drüber nachgedacht: Es ist pure Seelenhygiene, was er da tut. Er zieht sich zurück, um Energie zu tanken.

Die Pandemie hat das fast verunmöglicht: dieses für mich selbst sorgen, dieses Gott wieder hören können, dieses Feiern. Und ich vermute, so geht es ziemlich vielen. Privat und religiös.

Exerzititen Regina Laudage-Kleeberg

Ein Jahr Fastenzeit

In den Gottesdiensten fehlt der „Wumms“ des gemeinsamen Gesangs, fehlt das Kirchencafé in der Sonne, fehlt der beglückende Besuch der Kleinkinder am Rollator einer alten Dame. „Freude ist Mangelware: liturgisch, kirchenpolitisch und pandemiebedingt.“

Und deshalb ist der Sekt aufrüttelnd: Hier ist dein Gott, mitten in diesem mittäglichen Schwips, hier ist Freude, denn du bist geliebt. Vor aller Leistung, trotz aller Schuld.

Wobei sich jedes noch so kleine Schuldgefühl in den vier Tagen auflöst. Wir leben in einer krassen Extremsituation, es gibt niemanden, der die Pandemie und den inneren Kirchenkampf lässig wegsteckt. Es gibt gefühlt keinen Ausweg, kaum Erholung, kein Besinnen auf das Wesentliche, auf diese bombastische Botschaft.

Und viele (oder alle) hätten diese erlösenden Momente, diese Freude von Exerzitien so nötig: als Erholung von Pandemie und innerem Kirchenkampf.

Gott liebt

Roland, der Priester, zeigt das in den vier Tagen: Gott liebt und umgibt uns. Voller Freude, mit tiefem Trost. In dieser Pandemie, in dieser Kirche.

Endlich sagt mir das mal jemand. Endlich gibt es einen kleinen Neuanfang in mir. Endlich ein kleines Ostern.


Regina Laudage-Kleeberg

Sie liebt das Anders-Sein und das Anders-Werden von Menschen, Systemen und Organisationen. Das Anders-Sein hat sie geprägt: als Rheinländerin in Franken, als Deutsche in Istanbul. Sie ist das vierte von sechs Geschwistern und hat selbst drei Kinder. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Münster, arbeitet mit Begeisterung im Change Management und schreibt für ihr Leben gern. Zuletzt erschienen ist das Buch »obdachlos katholisch«.

Foto: © Melisa Balderi

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