Sinn  

Gespenster im Spukschloss der Realität

Was sind Zahlen?

Wir kommen nicht ohne sie aus. Nichts geht ohne Zahlen. Dieser Artikel hat eine Zahl als Höchstvorgabe an Zeichen und Wörtern. Er wird so und so oft mal angeklickt werden und eine paar Mal weniger gelesen. Er braucht eine Zahl an Sekunden zum Lesen und hatte so und so viel Millisekunden Ladezeit auf Ihrem Rechner. Es ist etwa mein siebter Beitrag auf „Sinn und Gesellschaft“. Sein Erscheinungsdatum wird mit Zahlen ausgedrückt. Selbst die Emotionen und geistigen Zusammenhänge kommen nicht ohne Zahlen aus. Drei großen Philosophen der Zahl fühle ich mich verbunden. Ich drücke das in einem Satz aus.

Was sind die Zahlen, ohne dass sie auf etwas zutreffen? Etwas oder nichts? Wenn etwas, was sollen sie sein? Sie sind keine Dinge, sie sind keine Prozesse, keine Qualitäten. Sagt man Quantitäten, hat man ein neues Wort für Zahlen eingeführt. Was sind Quantitäten, wenn sie nicht Quantitäten an Wert, an Länge, an Zeit, an Personen sind? Es ist wie in einem alten Spukschloss, dessen Besitzer längst entschlafen sind, aber den Besuchern vermeintlich als Geistern erscheinen. An die Geister wollen wir nicht glauben. Und doch macht es den Eindruck, dass die reinen Zahlen, deren zugehörige Dinge entschlafen sind, nicht nur Gespenster in unserer Fantasie sind.

So wie es nüchterne Geisterforscher in alten Spukschlössern gibt, gibt es auch für Zahlenforscher einen nüchternen Vorschlag. Zahlen sind das, womit man misst. Das, womit man zählt. Eine Art Meterstäbe. Finger, die man hintereinander ausstrecken kann. Perlenketten, die man zusammenschieben kann.

Zahlen sind mehr im Reich der Möglichkeiten

Das wäre ja mal etwas, es passt aber nicht ganz. Zahlen gibt es mehr als Finger und als Perlen auf der Kette, sie sind mehr im Reich der Möglichkeiten. Nehmen wir die Welt als ein Schloss, in dem alle bekannten Zahlen gefunden, gezählt oder gemessen werden können, dann muss man nur eine Zahl größer nehmen und hat ein Gespenst, das nicht in diesem Haus des Zählens wohnt. Das Haus des Zählens und Messens ist voller solcher Gespenster, da gibt es irrationale Zahlen (unvernünftige, nicht hinschreibbare), imaginäre (vorstellungsartige, die nicht in der Zahlenreihe vorkommen), infinitesimale (winzigste), außerdem überabzählbare (d. h. nicht zählende) Zahlen.

Natürlich streiten Philosophinnen, ob wirklich alles, was Mathematiker Zahlen nennen, Zahlen sind.

Die Mathematiker, Physikerinnen und Buchhalter streiten darum nicht mehr. Das Rechnen und Beweisen mit all diesen „Zahlen“ funktioniert. Andererseits schauen sie nicht so auf die Probleme. Ich bleibe dabei: Gegenstände der angewandten Mathematik haben allesamt die Tendenz, dass sie dazu führen, dass man eine Art „Geister“ in den Schlössern der Realität akzeptieren muss, wenn sie auch nicht als wankende Skelette mit Rasseln auftreten.

Keine Angst vor Geistern – und auch nicht vor Zahlen

Wie kommt der erschrockene Gast im Spukschloss, in dem die Dinge verschwinden und die Zahlen bleiben, über die Nacht? Machen wir also einen Vorschlag: Wir setzen wie der erschrockene Spukforscher im Film einen heroischen Akt: Wir sagen, wir kennen euch Geister, wir geben euch Namen, wir haben keine Angst vor euch, zeigt euch!

Und sobald man sagt, nimm die ganze Reihe aller Zahlen, zu denen man eins dazu zählen kann als Ganze, und es zeigt sich ℕ, die Menge der natürlichen Zahlen, die kein Rechner durchlaufen kann. Ähnlich zeigen sich Pi und die goldene Schnittzahl 1,61803…, die wie so viele Zahlen nicht exakt berechnet werden können. Es zeigen sich unendlich viele Zahlen allein zwischen 0,999999999… und 1. Die Welt wird größer!

Was sind die Zahlen?

All dieses Neue ist mehr als nur unsere Vorstellungen oder gar nur unsere Taten. Das Neue sind keine Dinge oder Eigenschaften. Und doch ist es irgendwie wirklich. Was sind die Zahlen, wenn man die Angst vor Gespenstern abgelegt hat? Ich mache vorerst drei Vorschläge:

  • „Dinge“ höherer Art: Vollkommenheiten, Perfektes (Man denken an den vollkommen runden Kreis im Gegensatz zu den Kreisen der imperfekten materiellen und vergänglichen Welt)
  • „Gedanken“ höherer Art: Ziele, Ideale, Strukturen (eine Art Unterscheidungen, die Klarheit schaffen)
  • „Ereignisse“ höherer Art: Imperative (zu betrachten und zu erweitern)

Gehörten Zahlen zur ersten Kategorie, wären sie so etwas wie eine überzeitliche Gottheit, gehörten sie zur zweiten, wären sie im Bereich unbeschränkter Möglichkeiten, des Grenzenüberschreitens. Gehörten sie zum Dritten, wären sie, die Ereignisse des Rechnens, aus dem Bereich der (unberechenbaren) Kreativität.

Das alles steckt in der Beschreibung, dass eine Person im 8. Monat des Jahres 2021, einen Artikel mit xxx Zeichen produziert? Vielleicht spukt es ja doch, wenn Zahlen mit im Spiel sind.

Grafische Illustration mit Zahlen

Matthias Rugel SJ leitet ein 8-teiliges Seminar zum Thema “Schönheit, Wert und Paradoxie der Zahl”. Es beginnt am Mittwoch, 1. September 2021, um 19 Uhr. Der erste Termin ist kostenfrei zum Ausprobieren.

Bilder: © bashta/istock.com, VectorMine/shutterstock.com


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