Ein ganz persönlicher Jahresrückblick aus der Redaktion von Sinn und Gesellschaft
Die wirklich großen Dinge kann man nicht selbst machen oder selbst herbeiführen – sie können nur geschenkt werden: Diesen Gedanken kennt die Theologie unter dem Begriff „Gnade“. Wir von der Sinn-und-Gesellschaft-Redaktion haben uns in diesem Jahr genau das gefragt: Wo habe ich etwas geschenkt bekommen, mit dem wir gar nicht gerechnet habe. Im Großen und im Kleinen ist so dieser Jahresrückblick entstanden.
Kraft der Freundschaft

September 2022: Als ich von einer Freundin zum Geburtstag die Filmeeinladung „NICHT GANZ KOSCHER – EINE GÖTTLICHE KOMÖDIE“ erhielt, ahnte ich nicht, wie nachhaltig der Film auf mich wirkte.
Die Geschichte in Kurzversion: Ein Jude aus New York gerät in die Wüste Sinai und braucht dringend die Hilfe eines Beduinen, der aber erst einmal sein ausgerissenes Kamel suchen muss. 14 Jahre haben sie an dem Film gearbeitet, phantastische Naturaufnahmen und Porträts. Während der Vorstellung in Ludwigshafen prasselt nach langer Trockenheit ein starker Regen auf das Zeltdach, während wir Zuschauenden von Wüstenbildern eingenommen sind.
Über Fremdfühlen und alle kulturellen wie religiösen Unterschiede hinweg, heiter und ernst, bedroht von Hitze und Wassermangel finden sich die beiden als Freunde wieder und helfen einander. Mich hat fasziniert, dass das Menschliche und Freundschaft stärker sind als jede kulturelle und religiöse Grenze.
Geschenkte Zeit

Ich sitze im Zug auf dem Weg von Münster nach Mannheim. Es ist reges Treiben hier im Zug. Hinter mir haben zwei junge Erwachsene Platz genommen, die aus dem Urlaub in Thailand kommen. Laptops sind geöffnet, das Klackern der Tastaturen deutet auf Arbeit hin. Eine ältere Dame unterhält sich mit ihrem Enkel über seinen Tag. Der Zug hält an. Für eine längere Zeit. Unruhe macht sich breit. Die ersten Menschen beginnen zu stöhnen und werden deutlich nervös. Wahrscheinlich rechnen einige im Kopf bereits aus, was eine weitere Verspätung nun ausmachen würde: verpasst man seinen Anschlusszug, arbeitet man noch länger und kommt später zum Beispiel bei seiner Familie an. Szenarien werden ausgemalt. Und dann sagt der Enkel relativ laut zu seiner Oma, dass das ja auch gar nicht schlimm sei. Er hat ja noch ganz viel zu erzählen. Für ihn ist es geschenkte Zeit.
Die Menschen lächeln und kommen wahrscheinlich ähnlich wie ich ins Grübeln. Verspätung als geschenkte Zeit zu sehen – eine neue Perspektive. Und so verharrt jeder noch etwas in der Situation, bis der Zug dann weiterfährt.
Eigentlich kein schönes Geschenk

Es war eigentlich kein schönes Geschenk: Im Oktober wurde festgestellt, dass unser siebenjähriger Sohn Diabetes Typ 1 hat. Das kam sehr überraschend und hat unsere Familie ziemlich auf den Kopf gestellt. Damit verbunden waren jedoch einige Menschen und Augenblicke, die ich rückwirkend als Geschenk betrachten kann: Ein Kinderarzt, der sich am Freitag Nachmittag noch Zeit genommen hat, obwohl seine Praxis eigentlich schon geschlossen war. Ein ganzes Diabetes-Team in der Kinderklinik, welches unseren Sohn auf der Station hervorragend aufgenommen und medizinisch betreut hat. Eine wunderbare Grundschullehrerin, die trotz einer trubeligen Klasse einen achtsamen Blick auf unser Kind hat. Sie gibt uns Eltern damit viel Sicherheit. Und zuletzt auch die Erkenntnis: Es ist ein Geschenk, dass ich in einem Land leben darf, in dem die medizinische Versorgung – trotz aller Krisen – auf einem hohen Niveau ist.
Die singende Familie

In den ersten Tagen des Lockdowns im Frühjahr 2020 bin ich auf youtube über sie gestolpert: die Marsh Family aus Großbritannien. Mutter, Vater und vier Kinder wie die Orgelpfeifen. Sie standen in ihrem Wohnzimmer und sangen über die Auswirkungen der Pandemie. Witzig und klug. Und so treffend, mir ging es in vielen Dingen genauso. Seitdem schaue ich alle paar Wochen auf ihrem Kanal vorbei. Die singende Familie hat sich weiterentwickelt: Die Kinder sind gewachsen und die Lieder sind politischer geworden. Die sechs Briten singen über den Krieg in der Ukraine, den Tod von Queen Elizabeth II und die Inflation. Sie setzen sich singend für die Krebsprävention ein und sammeln mit ihrem aktuellen Weihnachtssong Spenden für eine Kinderhilfsorganisation. Und die Marsh Family hat mit „Zan, Zendegi, Azadi“ (Frauen. Leben. Freiheit) ein klingendes Zeichen gegen die Gewalt an Frauen im Iran und weltweit gesetzt. Ich freue mich auf viele weitere Lieder, die sie ihren Fans und mir noch schenken werden.
Heilsame Verunsicherung

In welches Genre würde der Film am besten passen: Ist es eine Satire? Ist es eine Komödie – oder ein Drama? Oder eine Gesellschaftskritik. Allein schon hier entzieht sich „The Square“ der Klarheit. „Du solltest den Film unbedingt schauen – ich denke, er wird dir gefallen“ – ein Freund von mir hat den Film empfohlen und an einem Novemberabend habe ich mich entschlossen, ihn zu schauen. Ganz ehrlich: Vom ersten Moment an, hat er mich in den Bann gezogen. Der Regisseur Ruben Östlund erzählt die Geschichte eines angesehenen Museumskurators. Auf dem Platz vor dem Museum soll eine neue Kunstinstallation (ein beleuchtetes Quadrat) errichtet werden – ein Zeichen für Armut und Hilfsbedürftigkeit – und zugleich ein symbolischer Schutzraum für alle, die hilfsbedürftig sind. Doch dann wird das Mobiltelefon des Kurators gestohlen, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Auf welcher Seite möchte man als Zuschauer stehen? Wer ist eigentlich hilfsbedürftig – und wer nicht? Welche Wirklichkeit lassen wir an uns heran – und wo ist uns ein Symbol für die Wirklichkeit lieber? Der Film hat mich verunsichert. Und zwar in angenehmer Form: Er hat mir Fragen gestellt, die mir eine neue Aufmerksamkeit im Alltag geben.