Reichweite und »Daumen hoch« ist nicht alles
Es ist laut um uns. Trotz Corona, trotz fehlender Partys und Festivals, trotz eingeschränkten Flugverkehrs. Die Lautstärke lässt sich nicht in Dezibel messen, sondern in emotionaler Erregung. Schon immer wurden Skandale lauthals publik gemacht. Das ist nichts Neues. Doch hat der Ausschlag auf der Skala der Erregung in Zeiten von Facebook und Co. eine neue Qualität erlangt. Da schreien Verschwörungstheoretiker, selbsternannte Expertinnen und Möchtegern-Politiker aller Couleur ungefiltert gegeneinander an, geeint im Bestreben, sich gegenseitig zu überbieten. Es zählt: je schriller der Ton, desto größer die Reichweite.
Das gut gemeinte Anliegen Sozialer Netzwerke, Kontakte herzustellen und zu verbinden, scheitert kläglich an der Algorithmenlogik: Wo jede und jeder sich wohlfühlen soll, entstehen Eigenwelten der Selbstbestätigung, die im Ringen um ein homogenes, internes Wir-Gefühl gnadenlose Abgrenzung nach außen hin üben. So stehen sie zunehmend unversöhnlich nebeneinander, die Filterblasen der sich selbst bestärkenden Egos, und bestätigen die eigene Meinung durch Halbwissen einer im Informationsüberfluss ertrinkenden Medien- und Konsumgesellschaft.
Es ist zu viel
Es ist zu viel: zu viel Information. Zu viel Ich, das mit jedem geschenkten „Daumen hoch“ noch stolzer wird. Viel zu viele Kontakte, zerteilt in „Freunde“ und „die Anderen“. Zu viel Hass in aufgeputschten, ungesteuerten Diskursen, in denen vermeintliche Freiheit – insbesondere Freiheit der Meinungsäußerung – wie ein Schild vor sich hergetragen wird. Oft wird der sogenannte „Mut“ belohnt, doch endlich nun zu sagen, was sich vorher niemand zu sagen wagte. Jeder Tabubruch schafft neue Heldinnen und Helden, sie sich sonnen im zugeschriebenen Glanz der schönen, neuen Welt.
Ob wirklich jedes Tabu eines ist, das gebrochen werden muss? Ursprünglich ist das Tabu ein Schutzraum und garantiert das Gelingen des menschlichen Zusammenlebens. Manches darf man eben nicht sagen, nicht antasten, nicht in Frage stellen. Das Leben der anderen beispielsweise. So entstehen im besten Sinn geschützte Bereiche, um die kein Wort gemacht werden muss. Stille Übereinkunft.
Wenn Reden schadet
Das kann grundfalsch sein, wenn das Tabu der Unterdrückung dient. Ein Tabu ist aber nicht per se falsch. Falsch ist es, wo ein Nicht-Reden zum Schaden wird. Umgekehrt kann aber auch das Reden selbst zum Schaden werden. Dann nämlich, wenn es Freiheiten beschränkt, statt ihnen Raum zu verschaffen.
Laut war die Freiheit eigentlich nie. Sie stellte sich als Ruhe nach dem Sturm ein, war immer ein Stück verwirklichte Utopie.
Heute geht das unter im Kampfgeschrei all derer, die sie für sich proklamieren und dabei verkennen, dass die Freiheit immer Freiheit des Andersdenkenden ist.
Es geht gar nicht um Beschränkungen von Freiheit – in keiner der so laut gebrüllten sogenannten Diskurse, wie sie etwa die Querdenker-Bewegung in den Netzwerken anstößt. Es geht vielmehr um die stille – und in dieser Stille starke – innere Freiheit. Es könnte die Freiheit des nicht gesprochenen Wortes sein, der klugen Diplomatie, der wirklichen Auseinandersetzung mit den Motiven und der Überzeugung des Gegenübers.
Wie gewinnen wir Freiheit zurück?
Wenn Gesellschaft Freiheit zurückgewinnen will, geht das nicht im Rampenlicht der plakativen Polarisierung. Es geht nur im geregelten, geschützten Raum und nur mit der kalkulierten Option des Kompromisses. Beinhart geführte Linienkämpfe brachten nie Frieden und Freiheit. Damit das gesprochene Wort einen Klangraum hat und nicht im Hintergrundrauschen selbstgemachtes medialer Ego-Stürme untergeht, brauchen wir sie unbedingt, die Stille.
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