Was uns Weihnachten heute sagen kann
2020 wurde intensiver und früher über die Bedeutung von Weihnachten gesprochen, als ich das bisher erlebt habe. Und zwar nicht von Kirchenvertretern, sondern außerhalb der christlichen Kirchen. Damit meine ich nicht die auch sonst üblichen Aspekte des Festes, die wirtschaftlichen Nutzen haben und schlicht das Weihnachtsgeschäft ankurbeln. In diesem Jahr hörte ich die erste Weihnachtserzählung aus Politikermund – und merkte: Weihnachten fordert mehr von uns, als andachtsvoll die Krippe zu bestaunen.
Es war Ende Oktober. Da hieß es: Wir machen im November einen Teil-Lockdown, damit wir Weihnachten wie gewohnt feiern können. Denn, so betonte es zum Beispiel der bayerische Ministerpräsident Markus Söder immer wieder: „Weihnachten ist das Fest der Familie. Da wollen wir zusammen sein mit unseren Lieben.“
Ein uraltes Narrativ, dem kaum jemand widersprechen würde, auch wenn es in vielem nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht. Aber das müssen Narrative auch gar nicht. Narrative sind kollektive Erzählungen, die in einer Gesellschaft Sinn stiften. Meist sind sie voller Emotionen und Werte.
Weihnachten ist dafür ein Paradebeispiel. Das Fest transportiert mit einer hohen gesellschaftlichen Anerkennung Erzählungen, die weit über die christliche Religion und über die legendarische Schilderung der Geburt Jesu hinausgehen – gerade an diesem Weihnachten im Corona-Jahr. Es hat eine normative Kraft, an deren Anspruch sich seit Generationen Menschen aufrichten und an dem andere jedes Jahr zerbrechen.
Die Bedeutung von Narrativen in Krisenzeiten
Was wir gerade erleben, wirkt wie ein Lehrbeispiel: Besonders in Krisenzeiten entfalten Narrative ihre Wirkung. Ich glaube, Weihnachten könnte in diesem Jahr tatsächlich ein besonderes gesellschaftliches Mitmachprojekt werden. Mit der gegenwärtigen Krise hat Weihnachten gemein, dass es Menschen um den gesamten Globus herum verbindet.
Das Narrativ „Weihnachtsfriede“ hat immerhin eine solche Kraft entwickelt, dass punktuell im Ersten Weltkrieg und in anderen Konflikten über die Weihnachtstage weniger geschossen wurde.
Man hätte daraus lernen können, dass Schießen vielleicht nicht nur an Weihnachten entbehrlich ist. Was man an einem Tag lassen kann, damit Friede ist, könnte man an allen anderen Tagen aus gleichem Grund eigentlich auch lassen.
Welche Geschichte erzählt uns Weihnachten dann eigentlich?
Worüber will ich berichten, wenn ich von Weihnachten spreche? Ich will von einzelnen Menschen erzählen, die mit ihrer kleinen Macht dazu beitragen können, dass eine große Bewegung der Solidarität unter der Menschheitsfamilie entsteht. Zum Beispiel: Dass ich ein Stück Stoff vor dem Mund trage, hat Bedeutung. Ich kann damit dazu beitragen, Leben zu retten.
Wow! Was für eine Erzählung! Ich kann Leben retten helfen!
Das muss selbst der mächtigste Mann der Welt begreifen, auch wenn er noch so viele Lügengeschichten in Umlauf bringt.
Welche Geschichten braucht es gerade?
In Klammern bemerkt: Es ist wie mit dem Weihnachtsfrieden. Man könnte auch aus der Geschichte mit dem Mundschutz lernen: Ich kann auch sonst und jenseits von Corona als einzelner Mensch helfen, Leben zu retten. Das geht nicht nur mit einem Stückchen Stoff vor dem Mund.
Was ich einkaufe, welche Kleider ich trage, welche Petition ich unterschreibe oder wen ich vielleicht gerade im entscheidenden Augenblick seines Lebens anrufe, kann Leben retten helfen. Ich kleiner einzelner Mensch bin wichtig.
Und ich verbinde und verbünde mich damit mit anderen kleinen einzelnen Menschen, die ebenso wichtig sind – überall auf der Welt. Ob sie auf einem Flüchtlingsboot im Mittelmeer sitzen oder im Weißen Haus.
Weihnachten – mehr denn je ein starkes Narrativ
Diese uralte Erzählung von dem kleinen Menschen in der Krippe: Sie trägt die Botschaft in die Welt, dass jeder von uns andere retten kann. Und sie entlarvt den mächtigsten Mann der Welt als Lügner und lässt ihn lächerlich erscheinen.
Die Botschaft von Weihnachten lautet: Die Ohnmächtigen haben es in der Hand, die Welt zu gestalten. Den Herrschenden bleibt Ohnmacht.
Ich wünsche mir zu Weihnachten 2020 ein weltweites Mitmach-Erzählprojekt, das nicht nur Sinn stiftet, sondern auch etwas bewirken kann. Deshalb erzähle ich Geschichten von einzelnen Menschen, die solidarisch sind. Und werde selbst einer von ihnen.
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