Zusammenleben  

Der Krieg darf im Unterricht nicht fehlen

Warum wir Konflikte und Kriege im Schulunterricht behandeln müssen

In deutschen Schulen wird oft nicht verstanden, dass man auch außerhalb des Geschichtsunterrichts über Konflikte und Kriege nachdenken sollte und Wirtschaft und Handel nicht die einzigen relevanten Dimensionen internationaler Politik sind. Durch das Vermeiden dieser Themen entstehen Missverständnisse. Viele Lehrerinnen und Lehrer scheuen, das Thema Kriege und Konflikte im Unterricht aufzugreifen. Das führt zu gefährlichem Unwissen und macht Deutschland zu einem leichten Ziel von Propaganda, Desinformationskampagnen und Agitation, was mittelfristig unsere Gesellschaft demokratiegefährdend polarisieren kann.

Am 24. Februar 2022 marschierte Russland in der Ukraine ein; dabei zerbombte es zwei Grundgewissheiten Europas: Frieden und Sicherheit. Seitdem verunsichert der Angriffskrieg uns alle, die ganze Weltgemeinschaft, auch die Schülerinnen und Schüler in Deutschland.

Ich denke, weltweit teilen sich die Staaten in drei Gruppen ein: Diejenigen, die die Ukraine unterstützen, die, die Russland helfen, und die, die sich eine Art strategische Neutralität bewahren wollen. Viele Staaten des sog. Globalen Südens, z. B. Vietnam oder Süd-Afrika, gehören zu dieser Kategorie. Belarus, Iran und China zählen zu den Helfern Russlands. Die USA, das Vereinigte Königreich sowie die EU – und damit Deutschland – unterstützen die Ukraine. Im Umgang mit Jugendlichen kann man spüren, dass diese Weltverhältnisse bei der Frage nach der Unterstützung teils starke Spannungen verursacht. Woher kommt das?

Sorgen, Ängste, Zweifel und Ablehnung

In Deutschland deuten etliche Umfrageergebnisse darauf hin, dass ein Großteil der Bevölkerung die eigene Sicherheit für gefährdet hält. Man hat oder hatte wenigstens 2022 Mitleid mit Kriegsopfern. Man hat Angst davor, dass Energie knapp wird, Preise steigen und man sich seinen Lebensstandard nicht mehr leisten kann. Man macht sich darum Sorgen, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen werden oder dass Russland seine Atomkrieg-Drohungen ernst meinen könnte. Dazu kommt, dass man irgendwie nicht wissen scheint, welchen Informationen von wem man Glauben schenken kann. Gerade an den Rändern des politischen Spektrums versuchen Parteien, aus diesen Sorgen und Ängsten Kapital zu schlagen. Auf Demonstrationen gegen die Politik der Ampelregierung stehen Teile der AFD und der Linken zusammen – Dieser Zweifel und diese Ablehnung wirken bis ins Klassenzimmer.

Konflikte führen auch zu Spannungen im Klassenzimmer

Die Schule ist nicht von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen entkoppelt; es ist die Doppelnatur dieses Mikrokosmos, Teil der Gesellschaft sowie ihr Abbild zu sein. Abhängig vom Schulort, das werden alle Lehrerinnen und Lehrer bestätigen können, die sich trauen, das Thema in ihrem Unterricht behandeln, wird man damit konfrontiert, dass Schülerinnen und Schüler – genau wie alle anderen – manchmal desinteressiert sind an dem, was „dort los ist“. Andere dagegen gestehen ein, dass sie von Informationen überflutet würden, mit denen sie nichts anfangen könnten; schlimmer noch, einige verschließen ihre Augen: „Ich will’s nicht wissen“. Wieder andere reagieren mit Angst oder Wut.

Der Glaube an russische Propaganda-Narrative, der bis zur Wiederholung von Putin-Statements reicht, z. B. dass die NATO Ost-Erweiterung Russland bedrohe oder dass Russland einen Völkermord im Donbas beenden wolle, zeugen davon, dass Jugendliche nicht wissen, welchen Informationen sie trauen können. Dazu kommt selbst in Oberstufen Unkenntnis über das politische System der BRD, der EU, die Aufgaben und Funktionsweise der NATO, unsere Werte und Interessen.

Daraus resultiert, dass der Verlauf des Konflikts seit dem Euromaidan im Spätjahr 2013, die folgende Annexion der Krim-Halbinsel 2014 sowie die Destabilisierung des Donbas und die russische hybride Kriegführung nicht mehr thematisiert werden: Und selbst wenn man dazu kommt, auch nur eines dieser Themen anzusprechen, gibt es Klassen, in denen man nichts glaubt, was von der Schule kommt, weil sie ja das „System stützt“.

Die Schule ist nicht von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen entkoppelt; es ist die Doppelnatur dieses Mikrokosmos, Teil der Gesellschaft sowie ihr Abbild zu sein.

Außerdem haben manche Schülerinnen und Schüler selbst Flucht- und Kriegserfahrungen in ihrem Leben gemacht, einige stammen aus Russland, andere kamen erst vor Kurzem aus der Ukraine. All das kann in einem Klassenzimmer zusammenkommen; natürlich ist dann die Klasse ebenso stark polarisiert wie die Gesamtgesellschaft, ohne die Positionen, die sonst noch vertreten werden, überhaupt anzusprechen. Was soll man tun?

Ukraine Krieg Schule

Sicherheit muss erarbeitet werden – die Schule ist der beste Ort dafür

Soll man Krieg und die Probleme im Klassenzimmer ignorieren? Soll man stattdessen „Wandel durch Handel“ unterrichten, wobei Handelsbeziehungen in völkerrechtliche Verträge gegossen werden sollen? Soll man unterrichten, dass Deutsche Außenpolitik von der Hoffnung getragen wurde, unsere Werte und Normen mit unseren Investments und im Güterverkehr irgendwie mitzuexportieren? Das schadet nicht, wird aber wenig dabei nützen, Krieg und Konflikt als eine (internationale) Politik-Dimension besser zu verstehen.

Über Konflikte im Allgemeinen und konkret über den Krieg Russlands gegen die Ukraine sprechen, lautet gerade deshalb der Aufruf. Drei Lernziele sollten dabei besonders angestrebt werden:

  1. Wir sollten Fakten mit Schülerinnen und Schülern kritisch und differenziert herausarbeiten und dabei gemeinsam herausfinden, welchen Quellen man trauen kann, um damit die Jugendlichen zu befähigen, Propaganda zu entlarven.
  2. Wir sollten gemeinsam versuchen zu verstehen, dass es einen Zusammenhang zwischen militärischen Handlungsfähigkeiten, Sicherheit und den Möglichkeiten, Weltpolitik auch friedlich zu gestalten, gibt.
  3. Wir sollten mit den Jugendlichen entdecken, dass Konflikte zumeist so lange geführt werden, wie die Kosten-Nutzen-Kalküle aller Involvierten so ausfallen, dass sie einen für die jeweiligen Interessen günstigen Ausgang erwarten lassen und Verhandlungen vom letzten Stand auf dem Schlachtfeld aus geführt werden.

Die Auseinandersetzung mit diesen Themen kann uns dabei helfen zu begreifen, was wir selbst wollen, was unsere Werte und Interessen sind – Frieden und Sicherheit – und wie weit wir dafür gehen.

Vor diesem Hintergrund müssen Lehrerinnen und Lehrer Konflikte und Kriege mit ihren Schülerinnen und Schülern bearbeiten, um Resilienz gegen Desinformation schon bei Jugendlichen zu erhöhen. Sie müssen Grundwissen über diese Dimension von Politik vermitteln, um damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.

Ich glaube, wir müssen verstehen, dass Sicherheit keine Selbstverständlichkeit ist: Sicherheit muss erarbeitet werden.

Fotos: © iStock.com


Thomas Cranshaw

ist Lehrer an der Fachschule für Sozialwesen der Diakonissen Speyer, Regional Gruppen Leiter Europa beim Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK), Promovant beim Max Planck Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (MPIL) Heidelberg. Hier vertritt er seine private Meinung.

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