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Sinn  

Den eigenen Tod sterben wir selbst

Gedanken zu heutigen Sterbewirklichkeiten und damit verbundenen Anforderungen

Wie werden wir einmal sterben? Was erwartet uns? Wovor fürchten wir uns? Und worauf dürfen wir hoffen? Umfragen zeigen wiederholt, dass wir uns wünschen, der eigene Tod möge uns im Schlaf überraschen – wir möchten dieses, unser Leben beschließende Ereignis offenbar lieber verpassen! Und natürlich hoffen wir auf einen späten Tod, als Finale eines langen, gesunden und maximal selbstbestimmten Lebens.

Unsere Aussichten: ein schrittweises Verabschieden aus der Welt

Die Realität zeigt jedoch ein etwas anderes Bild, und das versetzt uns in nervöse Sorge. Der Statistik nach erfüllt sich zwar unser Wunsch nach einem langen Leben, denn der wahrscheinliche Sterbeprozess erwartet uns im sogenannten vierten Lebensalter (ab 80 Jahren).

Doch im Gegensatz zum dritten Lebensalter (zwischen 60 und 80), das weitgehend agil und selbstbestimmt gelebt werden kann, ist die letzte Lebensphase geprägt von Einschränkungen und Verlusten, von Abhängigkeit und möglicherweise auch Vereinsamung. Ein vermutliches Szenario ist ein stetig fortschreitender, langwieriger Krankheitsverlauf mit komplexer Symptomlast. Möglich, dass wir am Ende auf Hilfe angewiesen, pflegebedürftig und vielfältig herausgefordert sein werden: durch Einbußen unserer körperlichen Kapazitäten und Autonomie; den Verlust von Aufgaben, Rollen und Status; durch Verluste von Beziehungen und Vertrautheiten; vielleicht auch durch Brüche in Gewissheiten zu uns selbst; und manchmal auch durch Verletzungen unseres Würdegefühls.

Sterben bedeutet heute meist ein schrittweises Verabschieden aus der Welt. Irgendwann ist gewiss, dass der Tod absehbar kommen wird, doch wann genau bleibt unabsehbar.

Unser Sterbeerleben: zwischen existenziellem Leid und Lebensqualität bis zuletzt

Manche Menschen kommen dann an einen Punkt, an dem sie sich selbst nur noch als erkranktes Organ oder als Tumor wahrnehmen und nicht mehr als ganzheitliche Persönlichkeit. Einige entwickeln dann einen Todeswunsch, weil das Lebensende mit genannten Herausforderungen ihnen wie nie gekannt zusetzt. Die Hospizbewegung hat dafür den Begriff total pain geprägt: existenzielles, alle Dimensionen des menschlichen Seins tangierendes, vollumfängliches Leiden. Dabei sind Lebenswille und Todeswunsch keineswegs als zwei Endpunkte einer Skala aufzufassen; vielmehr existieren beide parallel: Eigentlich möchte ich leben – nur eben nicht so!

Deshalb liegt der Fokus der Hospizbewegung auf dem Erhalt der Lebensqualität, um Leben bis zuletzt zu ermöglichen. Radikale Bedürfnisorientierung und Selbstbestimmung sind die Maxime, an denen sich ihr Handeln ausrichtet. Mit dem Ziel, das persönliche Würdegefühl zu stärken – und so im besten Fall den Todeswunsch zu lindern. Damit ist sie maximal erfolgreich: Derartiges Sterben gilt allgemein hin als gutes, weil angemessen umsorgtes Sterben, und ist Ziel der inzwischen vielfältigen Bestrebungen, Hospiz- und Palliativkultur überall dort zu implementieren, wo Menschen schwerstkrank bzw. absehbar sterbend sind. Schließlich darf nicht sein, dass (zynisch formuliert) froh sein kann, wer krebserkrankt relativ leicht Zugang zu hospizlich-palliativer Versorgung findet – und Pech, wem multimorbide, altersmoribund und in einer Pflegeeinrichtung „verwahrt“, dieser Zugang verschlossen bleibt.

Unsere Vorkehrungen: von sorgenbesetzt bis todesmutig

Noch eines hat die Hospizbewegung erreicht, was in ihrer Bedeutung für unsere Sterbewirklichkeiten kaum zu unterschätzen ist: Sie hat den Wandel der Sterbekulturen umfassend vorangebracht und somit auch unsere Auffassung vom Sterben – und vielleicht sogar vom Leben – bemerkenswert positiv geprägt. Die Diagnose einer gesellschaftlichen Verdrängung ist längst abgelöst von der Erkenntnis einer neuen Sichtbarkeit. Neuartige Phänomene rund um Sterben und Tod zeugen von Interesse, Neugier, sicher auch Faszination. Und sie verweisen auf Bestrebungen, sich auch mit dem eigenen Lebensende zu befassen.

Für ein solches Endlichkeitsbewusstsein steht die Hospizbewegung; sie wirbt für die Akzeptanz der Tatsache, dass wir sterblich sind. Wir können zwar Alter relativieren, Gebrechlichkeit aufschieben und sogar das Leben verlängern, aber wir können nicht aufhalten, dass wir eines Tages sterben und also nicht mehr existieren werden. Dies mag uns erstaunen oder empören – vielleicht wie kaum eine Generation vor uns, wo wir doch unser gesamtes Leben hindurch um unsere Einzigartigkeit kreisen. Und doch können wir es nicht ändern.

Es scheint also klug, Vorkehrungen zu treffen; und das tun wir auch, etwa indem wir uns um unsere Altersvorsorge kümmern oder unsere Patientenverfügung formulieren. Solche Beschäftigungen mit dem Lebensende sind durchaus auch sorgenbesetzt, wie auch die aktuelle Debatte um Legalisierung von Suizidassistenz eindringlich illustriert. Krankheit, Pflegebedürftigkeit, hochtechnologisierte durchökonomisierte Medizin, Demenz, Einsamkeit sind die Stichwörter; und zunehmend bilden auch Klimakatastrophe, Kriegsangst und Krisenstimmung weitere abstrakte Rahmungen.

Darüber hinaus scheinen immer mehr Menschen ermutigt, über das (An-)Erkennen eigener Verletzlichkeit für das Leben zu lernen! Und das am besten schon dann, wenn das Ende noch fern scheint. Nur so lässt sich der überwältigende, nationale wie internationale Erfolg eines kurzweiligen Bildungsangebots unter dem Motto “Am Ende wissen, wie es geht” zu Basics der Sterbebegleitung erklären.

Unsere Hoffnung – unsere Chance

Wir sterben heutzutage einen erwarteten Tod. Wie mag es uns damit ergehen? Und worauf dürfen wir dann hoffen?

Wenn nur noch wenig Zeit bleibt, drängt sich das Wesentliche vor. Was in dieser unvergleichlichen Atmosphäre von Intensität und Dringlichkeit erwachsen kann, tangiert die gesamte Palette menschlichen Lebensdesigns.

Hospizarbeit wirbt für ein mutiges Sein zum Tode, basierend auf der erfahrungsgesättigten Überzeugung, dass sich gerade in dieser Dramatik kostbare Chancen eröffnen: eine Chance, nochmal als Persönlichkeit zu wachsen; nochmal in Verbindung und Liebe mit Menschen zu sein; nochmal Sinn und Hoffnung zu finden, immer wieder neu. Die Chance, mutig, authentisch, offenherzig und mit allen Sinnen zu leben – und vielleicht ja sogar die Chance auf Versöhnung mit dem Ende der eigenen Existenz?

Es obliegt uns, den eigenen Tod selbst zu sterben – dieses eigentümliche, finale Großereignis unseres Daseins, das uns ja möglicherweise die Tür öffnen wird zu jenem Menschheitsrätsel, das wir lebendig niemals erfassen können. Wäre es nicht schade, dies schlafend zu verpassen?

Literaturhinweise

  • Chochinov, Harvey Max: Würdezentrierte Therapie. Was bleibt – Erinnerungen am Ende des Lebens, V&R 2017.
  • Kremeike, Kerstin et al: Todeswünsche bei Palliativpatienten – Hintergründe und Handlungsempfehlungen. CME-Artikel, Zeitschrift für Palliativmedizin; 2019, 20(06).
  • Macho, Thomas; Marek, Kristin (Hrsg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes, Fink 2007.

Foto: © horstgerlach/iStock.com, © Imagesines/iStock.com


Swantje Goebel

Die Soziologin forscht, referiert, unterrichtet und publiziert seit 20 Jahren zu Hospizarbeit und Palliative Care, insbesondere zu hospizlichem Ehrenamt und Fragen der Betreuungsqualität am Lebensende. Sie ist 2. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Patientenwürde. Frau Goebel gehört zum Akademieteam des Hospiz-Vereins Bergstraße in Südhessen.

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