Geschichte verstehen leicht gemacht
Informationen und Wissen verständlich zu vermitteln – das ist einfacher gesagt als getan. Insbesondere, wenn die Informationen für Menschen mit Behinderungen gedacht sind. Doris Katheder, Petra Schachner und Sabrina Weyh haben mit ihrem Handbuch über den Nationalsozialismus Neuland betreten. Ein Gespräch mit
Dr. Doris Katheder über die Bedeutung des Nationalsozialismus heute und die Herausforderungen auf dem Weg, Bildung für alle zu ermöglichen.
Warum ist das Thema Nationalsozialismus immer noch wichtig?
Auch wenn der Nationalsozialismus seit jetzt 77 Jahren vorbei ist, wirkt sich diese Periode unserer Geschichte bis in die heutige Zeit aus. Und das auf vielfältige Weise – das Spektrum reicht zum Beispiel vom Verhandeln über die „richtige“ Art von Erinnerung bis hin zum Erstarken „rechter“ und „rechtsextremer“ Haltungen. Auch der Umgang mit NS-Baurelikten und deren Nutzungsperspektiven gehört dazu.
Jetzt haben Sie das Handbuch „Der Nationalsozialismus“ herausgegeben. Welches Anliegen verbinden Sie damit?
Wir haben dieses Handbuch speziell für Menschen mit Lernschwierigkeiten konzipiert, denn wir wissen, dass Lernkonzepte für Menschen fehlen, die sich zwar sehr für das Thema Nationalsozialismus und seine Folgen interessieren, für die aber „reguläre“ Bildungskonzepte sprachlich und methodisch eine Barriere darstellen. Es besteht Bedarf an Angeboten wie dem Handbuch, die inhaltlich niederschwelliger ausgerichtet sind, anschauliche Methoden verwenden und in leicht verständlicher Sprache durchgeführt werden. Wir sind überzeugt: Bildung für alle darf auch ‚schwierige‘ Themen nicht ausschließen.
Inklusiv ausgerichtete Lernkonzepte zum Thema Nationalsozialismus sind längst überfällig.
Geben Sie ein Beispiel für die Umsetzung in leichte Sprache … Wie erklären Sie zum Beispiel das Wort „Pogrom“ in leicht verständlicher Form?
Wir verwenden dafür nur wenige und kurze Sätze:
Pogrom bedeutet:
Menschen werden aufgrund ihrer
- Religion
- Hautfarbe
- Zugehörigkeit zu einer Volks-Gruppe verfolgt oder angegriffen.
Der Staat
- schaut dabei weg
- macht dabei mit
- hilft diesen Menschen nicht.
Lesetipp
Das Handbuch ist eine Praxisanleitung zur Vermittlung des Themas Nationalsozialismus. Es richtet sich an Fachkräfte der inklusiv ausgerichteten Bildung. Ein Workshop zum NS-Buch ist am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände und am Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg buchbar. Das Konzept ist gleichzeitig so universell, dass es überall durchgeführt werden kann.
Wo waren die größten Herausforderungen bei der Erstellung des Buches?
Es handelt sich um Neuland, Themen der politischen und historisch-politischen Bildung auch in leichter verständlicher Sprache und mit leicht erschließbaren Konzepten zugänglich zu machen. Gleichzeitig ist ein sehr, sehr großes Interesse vorhanden. Insgesamt besteht ein sehr großer Nachholbedarf an inklusiv ausgerichteten Bildungsangeboten im Bereich politischer Bildung. Daher entwickeln wir am Caritas-Pirckheimer-Haus gerade auch eine ganze Reihe weiterer inklusiv ausgerichteter Bildungsformate, zum Beispiel zu den Themenkomplexen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Verschwörungserzählungen sowie eine fünfbändige Reihe „Wie geht Demokratie?“ .
Haben auch Menschen mit Behinderung an der Erstellung des Buchs mitgewirkt?
Ja, von Anfang an. Uns war es wichtig, in alle Entwicklungsschritte des Handbuchs und der Materialien die Menschen mit einzubeziehen, für die das Bildungsangebot bestimmt ist.
Die Teilnehmenden an Workshops und in Prüfgruppen, unter anderem der Weißenburger Werkstätten der Lebenshilfe, entschieden letztlich, was fester Bestandteil des Konzepts wird und was nicht.
Sie trugen einen großen Teil zur Entwicklung des Handbuchs bei. Maßstab der Bearbeitung war dabei immer der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Forschung zum Thema Nationalsozialismus.
Die Nationalsozialisten haben Menschen mit Behinderungen verfolgt und umgebracht. Was machen diese Geschehnisse mit Menschen mit Behinderungen heute, wenn sie davon erfahren?
Die allermeisten Menschen mit Behinderungen wissen sehr genau über die Verbrechen der Nationalsozialisten Bescheid. Allerdings wissen sie nicht, was das konkret für sie selbst bedeutet. Deshalb verbinden Menschen mit Behinderungen auch heute oft noch sehr diffuse Ängste mit dem Thema Nationalsozialismus. Deshalb ist das neu entwickelte Bildungsangebot ja so wichtig, weil es diese Ängste aufgreift, Unklarheiten bespricht und klarmacht, dass die rechtliche Situation für Menschen mit Behinderungen heute eine ganz andere ist – der Staat beschützt statt zu verfolgen. Grund- und Menschenrechte gewährleisten diese Schutzfunktion des Staates. Diese Zusammenhänge müssen aber dargelegt werden. Die Auseinandersetzung mit den historischen Geschehnissen dient als Brückenschlag zu den Menschenrechten heute.
Interview: Dr. Anette Konrad