Garhammer Berzbach lesen

Sinn  

Die Kunst zu lesen

Literatur als Flucht in die Realität

Frank Berzbach entführt in die magische Welt der Bücher. Ohne Literatur können wir die Welt gar nicht verstehen, meint der Psychologe „Die Kunst zu lesen. Ein Literaturverführer“. Erich Garhammer hat das Buch gelesen; und so manche Spannung und manchen Literaturtipp ergänzt.

W

arum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe“ (2006), so lautete der Titel des viel beachteten Essays des Literaturwissenschaftlers George Steiner. Für ihn war die Antwort ganz einfach. Unsere Wissenschaftsgläubigkeit setzt uns auf die falsche Fährte des Lebens. Der triumphale Fortschritt der Wissenschaft macht ihr Prestige in unserer Kultur aus, entpuppt sich aber bei näherem Hinsehen als selbstherrliche Trivialität. Denn die Wissenschaft könne auf die wesentlichen Fragen, die den menschlichen Geist umtreiben, keine Antwort geben. Denken hebt den Menschen zwar über alle anderen Lebewesen hinaus, macht ihn aber angesichts der Ungeheuerlichkeit der Welt zum Fremden. So wird er sich selber fremd- und er wird traurig.

Das Buch von Berzbach liest sich wie eine Remedur gegen diese Traurigkeit: es ist ein Loblied auf das Lesen. Obwohl Lesen ein einsamer Akt ist, stiftet es Gemeinschaft. Und der Autor gerät geradezu ins Schwärmen; das muss er auch, wenn er den Titel als Literaturverführer einlösen will. Seine Argumente müssen unter die Haut gehen und das tun sie.

Literatur ist die Quelle für die Schönheit der Sprache, sie speichert wunderbare Geschichten. Deshalb machen auch Bücher nicht müde beim Lesen, man wird durch sie wach. Lesen ist keine profane Tätigkeit. Wer sich den Büchern hingibt, tritt einer Art Ordensgemeinschaft bei. Lesen ist keine Flucht vor der Welt, sondern eine Flucht in die Realität. Ohne Literatur können wir die Vielfalt der Welt gar nicht verstehen.

Garhammer Berzbach lesen

Verführungskunst für Peter Handke

Natürlich gibt es auch Vorlieben und Abneigungen beim Lesen. Berzbach formuliert seinen Vorbehalt gegenüber Peter Handke: ihn störe dessen „passive Aggressivität“. Deshalb möchte ich nun meine ganze Verführungskunst für Peter Handke aufbieten. Seine Aufzeichnungen „Gestern unterwegs“ oder „Vor der Baumschattenwand nachts“ sind Schatzkisten voller Aphorismen für Leser, die das langsame Tempo lieben, für die Lesen genauso lebenswichtig ist wie Gehen. Lesen, Poesie, Stille und Schreiben sind für Handke unverzichtbar: „Die poetische Sprache ist die natürliche, die einzig wahrhaftige.“ Das Nichtlesen empfindet er als Gesundheits- und Wahrnehmungseinschränkung. Nicht mit Lesen verdirbt man sich die Augen, sondern mit Nichtlesen: „Lesen ist Verzicht auf Zeitgenossenschaft, aber es verbindet: „Lesen verbindet! Ja, aber nicht mit den Zeitgenossen?“ „Halte nur inne, so wird deine Seele gesund.“ Oder: „Lesen: die sieben Sakramente in einem.“ Berzbach und Handke sind geradezu Gesinnungsgenossen, da steht noch eine Versöhnung (im Lesen) aus.

Berzbach wohnt in Hamburg St. Pauli und arbeitet in Köln an der Technischen Hochschule als Literaturpädagoge und Philosoph. Das Nomadenhafte ist nicht nur seiner Existenzform eingeschrieben, sondern auch dem Lesen: er ist stets auf Entdeckung. Aber er hat auch ein Faible für Altmodisches, etwa das Briefeschreiben auf Hotelzimmern. Die Qualität von Hotels bemisst er nicht nach dem SPA-Bereich, sondern nach der Größe des Schreibtischs und dem Vorhandensein von schönem Briefpapier mit Kuverts.

Er bekennt offen, dass er gläubig ist, Katholik, allerdings mit Zweifeln an der Institution Kirche und ausgestattet mit dem Mut zu ganz eigener Glaubenspraxis. Seine Religion besteht aus der Orientierung an alten benediktinischen und jesuitischen Ordensregeln, Zenpraxis und Vorliebe für alle ernsthaften spirituellen Schulen. Seine besondere Empfehlung gilt der Bielefelder Bibel: diese Ausgabe der Hl. Schrift bringt die verschiedenen Gattungen der Bibel typographisch und visuell zur Geltung: es handelt sich bei der Bibel ja um keinen Einheitsbrei, sondern um Geschichten und Gebete, Berichte und Erzählungen, Briefe und Predigten.

Eine weitere Entdeckung will Frank Berzbach ebenfalls mit seinen Leser:innen teilen. Es ist der Hinweis auf das Buch des Geigenbauers Martin Schleske „Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens“ (2014). Darin beschreibt Schleske die Qualität der Bergfichten und ihre Eignung als Holz für den Geigenbau. Die Bäume haben alles abgeworfen, alle überflüssigen Äste, um ihren Stamm auf dem kargen Bergboden ausprägen zu können. Das macht sie zu den „Sängerstämmen“. Durch die Dürftigkeit des Bodens erlangen sie ihre Festigkeit, darin liegt ihre Berufung zum Klang.

Verständlich, warum sie für Berzbach Vorbild sind: alles Überflüssige abwerfen, um das eigene Leben zum Klingen bringen zu können. Lesen gehört für ihn zum Geigenbau seiner Existenz.

Empor die Herzen

Er gesteht, dass er Lyrik weniger gerne lese. Auch hier möchte ich ihn mit einem Lyriker verführen, der seine Lesetheorie verstärkt: Reiner Kunze. Sein Gedicht der Leser
„Wo
wo aber bliebe das wort, abgeschwiegen
dem tod, wäre hochgesetzt,
der hallraum nicht eines herzens“
(kunze, gedichte, 207)


unterstützt die Leseverführung von Berzbach aufs Trefflichste. Der Leser braucht den Hallraum des Herzens, um überhaupt lesen zu können. So wie es in der Liturgie das „sursum corda“, das „empor die Herzen“ braucht, um den Raum des Geheimnisses betreten zu können.

Man kann mit dem von Buch von Berzbach seinen Urlaub verschönern, aber auch den Alltag zum Urlaub machen. Das Wort Urlaub kommt von Erlaubnis: Urlaub erlaubt viele Freiheiten, auch die zum Lesen. Schön, wenn man einen Literaturverführer wie den von Frank Berzbach im Gepäck hat.

Die Kunst zu lesen

Frank Berzbach

Frank Berzbachs „Die Kunst zu lesen. Ein Literaturverführer“ ist im September 2021 im Eichborn Verlag erschienen.

Berzbach, Jahrgang 1971, unterrichtet Literaturpädagogik und Philosophie an der Technischen Hochschule Köln. Nach einer Ausbildung zum Technischen Zeichner studierte er Erziehungswissenschaft, Psychologie und Literaturwissenschaft. Er lebt in Köln und auf St. Pauli.

Mehr über das Buch erfahren Sie hier

Fotos © wunderlichundweigand


Erich Garhammer

hat als Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg von 2000 bis 2017 (vorher 1991 bis 2000 in Paderborn) eine ganze Generation von Theologie-Studierenden geprägt. Als Schriftleiter der Zeitschrift »Lebendige Seelsorge« setzte er theologische Themen und führte Menschen zu konstruktiven Auseinandersetzungen zusammen. Sein besonderes Faible sind Literatur und Kunst. Und: Gutes Kochen, Joggen, Yoga, Reisen und spannende Unterhaltungen. Eben all die Felder, in denen das Gute & Schöne sich mit dem Leben trifft.
www.erichgarhammer.de

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