Karl-Heinz Ott Verfluchte Neuzeit

Zusammenleben  

»Einen gemeinsamen Horizont gibt es nicht mehr«

Karl-Heinz Ott über die Wiederbelebung des reaktionären Denkens

Schriftsteller Karl-Heinz Ott hat sich in seinem neuen Buch „Verfluchte Neuzeit“ der Frage gewidmet, woher das Misstrauen in die Demokratie kommt und warum autoritäre Staatsmodelle immer mehr Zuspruch bekommen. Das reaktionäre Denken ist älter als gedacht – ein Interview mit dem Autor.

Herr Ott, wie sind Sie nach einem Buch über den Dichter Friedrich Hölderlin darauf gekommen, dem reaktionären Denken nachzugehen?

Im Grunde handelt es sich bei dem neuen Buch „Verfluchte Neuzeit“ um eine Ausweitung des Hölderlin-Themas. Hölderlin ersehnt die Wiederkehr der griechischen Antike herbei, weil er die Gegenwart für unerträglich hält. Er gehört zu jenen radikalen Modernitätskritikern, die dem individualistischen Treiben der Neuzeit nicht viel Sinn abgewinnen können. Jeder muss in seinen Augen heutzutage schauen, wie er durchkommt, einen gemeinsamen Horizont gibt es nicht mehr. Bei den Griechen glaubt er dagegen ein großes mythisches Ganzes zu entdecken, in dem sich der Mensch aufgehoben wusste.

Karl-Heinz Ott Verfluchte Neuzeit

In »Verfluchte Neuzeit« zeigen Sie, dass die Moderne gerne kritisiert wurde. Wieso hadern ganz unterschiedliche Denker wie Leo Strauss, Martin Heidegger oder Michel Foucault mit einer Moderne, die ihnen allen auch Freiheiten gebracht hat?

Teils halten sie diese Freiheit für eine Illusion, teils ist für sie diese Freiheit gleichbedeutend mit Bodenlosigkeit. Heidegger und Foucault stehen zwar politisch auf entgegengesetzten Seiten, doch gegen Ende seines Lebens betont Foucault, dass er sich immer an Heideggers Denken orientiert hat. Beide behaupten, dass wir bloß glauben, frei zu sein, in Wirklichkeit jedoch Gefangene sogenannter Diskurse sind. Wir plappern demnach nur nach, was uns das mediale Getriebe vorkaut, was uns der Zeitgeist einflüstert und was herrschenden Denkmustern entspricht. Wir wähnen uns frei, sind es aber nicht. Eine riesige Maschinerie aus technisch gelenkten Netzwerken zwängt uns in ein Korsett aus Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die wir für selbstverständlich halten, die in Wirklichkeit jedoch nur ein einziges Ziel haben: Normierung, Disziplinierung, Anpassung. Das reicht vom Kindergarten bis zum Gesundheitssystem, von der Schule bis zum Wissenschafts- und Kulturbetrieb.

Die Ursünde der Neuzeit besteht für all diese Denker in der Inthronisierung einer bestimmten Art von Vernunft, die mit Descartes in die Welt gelangt.

Die Ursünde der Neuzeit besteht für all diese Denker in der Inthronisierung einer bestimmten Art von Vernunft, die mit Descartes in die Welt gelangt.

Diese Vernunft verlangt, dass wir nichts mehr nur glauben, weil es Platon, Aristoteles oder irgendwelche Kirchenväter gesagt haben. Wir müssen alles in Frage stellen und alles methodisch prüfen. Damit siegt in den Augen der Neuzeitkritiker eine Rationalität, die alles ausgrenzt, was sich ihr nicht fügt.

Auch für Leo Strauss beginnt mit Descartes das Übel einer Neuzeit, die nicht mehr an eine ewige, stets gleichbleibende Ordnung glaubt. Das zweite neuzeitliche Grundübel besteht für Strauss darin, dass man Politik und Religion, Staat und Glaubensangelegenheiten trennt, so wie es Hobbes in seinem 1651 erschienenen „Leviathan“ fordert. Damit wird das Geistige vom Praktischen, das Sinnstiftende vom Gesetzlichen getrennt. Jede Art von Einheit wird damit zerschlagen, alles zersplittert.

Paradox an allen diesen Denkern ist, dass sie eine Freiheit verdammen, die ihnen die Freiheit gewährt, alles denken und sagen zu können. Allerdings unterscheiden sich diese Denker in ihren Motiven und Begründungsmustern. Die einen sehnen sich nach dem Eingebettetsein in ein kosmisches Ganzes, wie etwa Heidegger, die andern sehnen sich nach einem starken Staat, der sagt, wo es langzugehen hat, wie Leo Strauss und Carl Schmitt, wieder andere sehen überall Herrschaftsmechanismen am Werk, die sie sprengen wollen, wie Foucault.

Die Rückkehr zu alten Ordnungen erlebt nicht erst seit Donald Trump eine Renaissance. Warum war und ist das so vielen Intellektuellen wichtig?

Tatsächlich ist das Leben übersichtlicher, wenn ich weiß, dass es eine Pilgerreise ist, deren eigentliches Ziel im Jenseits liegt, so wie es das mittelalterliche Christentum lehrt. Seit der Neuzeit kann jeder glauben, was er will. Ein gemeinsames Fundament gibt es nicht mehr. Jeder geht dem Seinen nach, heißt es bei Hölderlin, was fehlt, ist ein sinnstiftender Zusammenhang.

Auf rechten Demonstrationen können wir inzwischen Plakate mit der Aufschrift sehen: „Scheiß Freiheit!“

Wenn Freiheit nichts mehr bringt und man sich dafür nichts mehr kaufen kann, will man etwas anderes: Sicherheit, Ordnung, Heimat.

Man sehnt sich nach Übersichtlichkeit: Hier wir, ihr dort! Übersichtlichkeit bedarf klarer Grenzen: Wem gehört was? Wer gehört wohin und wohin nicht?

Als ein nach Amerika ausgewanderter Jude hat Leo Strauss kurz nach Hitlers Machtergreifung erklärt: Der Faschismus wäre eigentlich das einzig Richtige, wenn er nur nicht antisemitisch wäre. Faschismus bedeutet Ordnung, Hierarchie, Führertum. Jeder weiß dort, was er zu tun und was er zu glauben hat. Leo Strauss fordert, dass ein Staat so homogen sein muss wie nur möglich. Alles Fremde und Kunterbunte bringt in seinen Augen die Dinge durcheinander und verkompliziert das Zusammenleben. Rechtsintellektuelle sehnen sich nicht nach Freiheit, sie sehnen sich nach Ordnung. Sie sind überzeugt, dass Freiheit die Menschen überfordert.

Karl-Heinz Ott Verfluchte Neuzeit

Sie zeigen in Ihrem Buch, dass in der Moderne das Sinnstiftende verloren ging, dazu zählt insbesondere der Glaube an Gott. Hat der Verlust dieser Einheit auch gute Seiten?

Luther ist neben Descartes und Hobbes die dritte Reizfigur im Konzert der radikalen Neuzeitkritiker. Sie alle werfen Luther vor, dass er Glaubensfragen dem Einzelnen überantwortet, indem er das Gewissen zur Zentralinstanz kürt. Nicht mehr die Dogmen der Kirche sind für ihn maßgeblich, stattdessen rückt er das Verhältnis jedes Einzelnen zu Gott ins Zentrum. Dazu gehört, dass ein jeder die Bibel aus freien Stücken lesen kann, ohne autoritative Vorgaben einer vatikanischen Instanz.

Schon Novalis und Eichendorff halten Luther für den Urschuldigen an einer Moderne, die den kugelrunden katholischen Kosmos des Mittelalters zertrümmert hat. Carl Schmitt sieht das genauso. Mit Luther beginnt für ihn eine Freiheit, die zu einem wilden Stimmengewirr führt, das identisch ist mit Anarchie.

Natürlich hat alles seine Vor- und Nachteile. In einem geschlossenen Kosmos kann ich mich geborgen fühlen, ich kann darin aber auch Asthma kriegen. Das schwierige Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit rückt heutzutage wieder ins Zentrum der politischen Diskussionen.

Im abschließenden Kapitel erzählen Sie von Voltaire. Voltaire – der Revolutionsführer, der als Deist nicht mit dem Eingreifen Gottes in der Welt rechnete – erbaut Gott gegen Ende seines Lebens eine Kirche. Ist der Glaube eine Strategie, mit der man die positiven Seiten der Moderne schätzen lernen kann?

Voltaire bekämpfte einerseits die Übermacht der Kirche, andererseits sagte er: Wer an nichts Absolutes mehr glaubt, scheut auch vor nichts mehr zurück – er kann ohne Angst vor einem göttlichen Strafgericht lügen, betrügen, morden. Voltaire war ein Ironiker. Ironie ist etwas anderes als Zynismus. Ironie will nicht zerstören, sie weiß, dass wir letzten Endes nichts wissen.

Im Übrigen sind wir alle Gläubige. Auch der Atheist kann nur glauben, dass es keinen Gott gibt; wissen kann er es nicht.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Würden Sie, wenn Sie könnten, lieber in einem vorherigen Zeitalter leben oder gefällt Ihnen die Moderne doch besser?

Leben möchte ich nur im Heute. Wäre es jedoch möglich, gelegentlich eine Reise in vergangene Zeiten zu machen, würde ich das tun. Allerdings nur in dem Wissen, wieder zurückzukommen.

Das Interview führte Christoph Kraft.

Verfluchte Neuzeit

Karl-Heinz Ott Verfluchte Neuzeit

Karl-Heinz Otts „Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens“ ist im März 2022 beim Hanser Verlag erschienen.

Ott ist 64 Jahre alt, er studierte Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft und war Leiter der Schauspielmusik in Esslingen und Freiburg und Chefdramaturg in Basel, seit 1996 ist er freischaffender Schriftsteller. Für sein Werk wurde er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

Mehr über das Buch erfahren Sie hier

Fotos: Headerbild © Peter-Andreas Hasspiepen, © wunderlichundweigand


Christoph Kraft

hat Geschichte und Germanistik studiert und einen Master im Fach Deutsche Literatur erworben. Bei der Heilbronner Stimme war er als Journalist im Bereich der überregionalen Nachrichten eingebunden. Als Redakteur arbeitet er bei einem Gestaltungsbüro und realisiert Websites und Magazine. Seine Passion sind Sachbücher und Belletristik. Er ist bei Calw aufgewachsen, dort wo auch Hermann Hesse seine ersten Lebensjahre verbrachte. Er wohnt inmitten von Weinbergen, seine Lieblings-Laufstrecken sind damit traumhaft gelegen.
Foto © wunderlichundweigand

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