Wie der Künstler Jaroslav Drazil mit seinen biblischen Figuren heilsam verunsichert
Jaroslav Drazil ist gelernter Maskenbilder und sorgte am Theater dafür, dass Menschen sich in ihre Rollen verwandeln. Als Künstler verwandelt er ebenfalls Menschen – und zwar die, die sich von seinen Bildern in den Bann ziehen lassen. Seine Werkreihe „Factum est“ greift Themen und Personen aus dem Neuen Testament auf und gibt vermeintlich bekannten Figuren und Themen eine ganz neuen Raum.
Wer sich zum Atelier von Jaroslav Drazil aufmacht, durchläuft erst einmal Würzburger Brauereigeschichte. Hinter den hohen Backsteinmauern entstand bis 1989 mehr als 150 Jahre lang das Bürgerbräu-Bier. Heute haben auf dem weitläufigen Gelände ein Theaterensemble, ein Programmkino, Architekten, Kneipen und Kulturschaffende ihre Heimat gefunden.
Während vor dem Gebäude noch die vibrierende House- und Technobeats aus einem der Lokale nachhallen, ändert sich die Atmosphäre beim Betreten des Ateliers schlagartig. Eine Madonnen-Darstellung zieht die Aufmerksamkeit auf sich.
Streng und distanziert ist ihr Blick, schützend die Hand auf ihren Sohn gelegt. In dem quirligen Brauereikontext wirkt das Werk umso geheimnisvoller und sakraler. Es ist eines von zwölf Werken, in denen sich Jaroslav Drazil Themen und Figuren aus dem neuen Testament widmet. „Factum es“ lautet der Titel der Reihe – eine Anlehnung an eine der grundlegendsten Aussage des christlichen Glaubens: „Verbum caro factum est“ – das Wort ist Fleisch geworden.
Warum gerade biblische Szenen und christliche Motive?
Drazil kam in Lilienfeld in Österreich zur Welt und hat tschechische Wurzeln. Als Maskenbilder wirkte er am Theater, heute ist es komplett die Kunst, die ihn beschäftigt. Birkenwälder, Szenen aus dem Landleben, poppige Portraits: Die Werke des Künstlers waren bislang gar nicht religiös gefärbt. Warum gerade biblische Szenen und christliche Motive? Sie begleiten praktisch schon ein Leben lang den Künstler. „Ich komme aus einem sehr religiösen Elternhaus, biblische Geschichten und Figuren gehörten zum Alltag. Meine Mutter ist selbst auch Künstlerin und hat sich immer wieder christlichen Motiven auseinandergesetzt. Die Bilder hingen bei uns zu Hause. Ich merke immer wieder im Alltag, wie mir Themen und Figuren aus der Bibel begegnen – und wollte dem nachgehen.“
Bis zu 2,5 Meter Höhe haben die Werke. Allein schon mit den großen Formaten nehmen sie die Wirkung christlicher Tafelbilder in Anspruch. Schauplatz sowie Konstante der Werke ist eine dörfliche geprägte Landschaft. Holzschnittartig und mit geometrischen Elementen bilden Häuser, eine Kirche und Bäume den Hintergrund, der Vordergrund wird von Blüten bestimmt. In diesem Setting treten die Figuren zusammen.
Die Gesichter malt Drazil ohne Vorlage, sie kommen einfach so aus ihm; Konstellationen, Körperhaltungen, Kleidung und überhaupt den Bildaufbau entwickelt er über Collagen von Fotos und Skizzen.
Familientreffen des Neuen Testaments
Maria Magdalena, Judas, Jesus, Josef, Maria, Lazarus, einer der Weisen aus dem Morgenland … wenn man die Figuren aufzählt, könnte man meinen, hier gibt es so etwas wie ein kleines Familientreffen des Neuen Testaments. Vertraute Gesichter, alte Bekannte. Eigentlich wissen wir ja, wie die jeweilige Geschichte oder Szene weitergeht. Doch die Art und Weise, wie Drazil sie in seine Gemälde bringt, entzieht ihnen die Vertrautheit.
Auf „Judas“ ist der Jünger mit Jesus zu sehen, in inniger Umarmung. Das Thema und die Geschichte sind klar – aber in der Darstellung ist Jesus abgewandt und Judas blickt den Betrachter an.
Im Mittelpunkt steht nicht Jesus, stattdessen der Jünger mit dem schlechten Image. Die Nebenrolle wird zur Hauptfigur.
„Mir war hier wichtig zu zeigen: Judas ist eben nicht nur ein Sündenbock, sondern Schlüsselfigur.“ Der Heiligenschein, der Jesu Haupt umstrahlt, schließt das Haupt Judas’ mit ein. Ein Detail voller Verbundenheit und Trost.
„Jesus und Magdalena“ greift eine der anmutigsten Erzählungen des Neuen Testaments auf. Ihr erscheint der Auferstandene im Garten vor dem Grab zuerst – doch sie hält ihn zunächst für den Gärtner. Als sie ihn doch erkennt, erwidert er ihr „Halte mich nicht fest“.
Auf dem Bild ist der Garten gar nicht zu sehen, vielmehr liegt Maria Magdalena gedankenversunken auf einem Sofa, die Hände ausgestreckt zum verklärten Jesus. Fast berühren sich beide – doch die die Farbgebung der Bildhälften macht klar: Hier handelt es sich um getrennte Welten.
Einzig der Zeigefinger von Maria ragt leicht über die Bildhälfte und sendet Wellen aus, die Jesus umspielen. Selbst wenn keine Berührung mehr möglich ist, so bleibt doch etwas, das Irdisches und Himmlisches miteinander verbindet: Sehnsucht.
Nebenrollen sind Hauptfiguren
„Klar, die großen Werke biblischer Kunst der alten Meister sind immer da, man ist da nie befreit. Aber ich habe sie bewusst nicht angeschaut. Das hat mir die Freiheit gegeben, die Szenerie neu zu schaffen.“ Inhalten neuen Raum geben, und vermeintliche Nebenrollen ins Zentrum der Bühne holen. Die Herangehensweise von Jaroslav Drazil färbt auf den Betrachter ab: Man lernt bekannte Figuren und Erzählungen neu kennen. Sie enthüllen sich nicht nur als Vertraute, sondern auch als Unbekannte – was für eine schöne, heilsame Verunsicherung.
Mehr zu Jaroslav Drazil unter: www.jaroslav-drazil.com
Fotos © privat, © Katharina Gebauer