Kirche Missbrauch katholisch

Versöhnung  

Wie gehen wir mit Missbrauch in der Kirche um?

Was ich meiner Kirche wünsche

Auf der Zeitachse tariert sich unser Leben ständig neu aus: Jedes Heute ist morgen schon wieder gestern. Was klingt wie ein Kalenderspruch, ist tägliche Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit und alles andere als banal. Auch das „Leben“ von Institutionen kennt den Rückblick ebenso wie den Ausblick. Auch Institutionen können ihre Vergangenheit nicht abstreifen wie ein altes Kleid oder sich allein im nostalgischen Blick zurück verlieren.

Davon ist Kirche – sind wir als Kirche – nicht ausgenommen. Gerade eine wertebasierte Gemeinschaft, eine Glaubensgemeinschaft, braucht Selbstvergewisserung. Die schöpft sie aus Tradition. Aber sie schöpft sie – was oft unterschätzt wird – ebenso aus einer gemeinsam getragenen Zukunftsvision.

Mit der Vergangenheit umzugehen, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Gestaltung der Zukunft.

Eine gute Zukunft fest im Blick zu haben, hat unmittelbar damit zu tun, die Vergangenheit genau und kritisch unter die Lupe zu nehmen. In unserer Kirchentradition liegt viel Schönes: Zuallererst Jesus und die Geschichten, die uns bis heute mit ihm verbinden. Aber auch der Schatz uralter Texte, die Gedanken derer, die vor uns glaubten, Lieder und Symbole, die zu unserer Identität gehören und sie prägen.

Missbrauch in Kirche – ein Donnerschlag

Dicht daneben liegt die dunkle Seite: Wir tragen schwer an Schuld, die sich bergeweise angehäuft hat, an engstirnigen Entscheidungen, falsch verstandener Buchstabentreue und Diskriminierungen jeder erdenklichen Art. Wie ein Donnerschlag brach unsere Vergangenheit in die Gegenwart ein, als Ausmaß und System von Missbrauch in Kirche bekannt wurden. Dass er bis heute stattfindet, dass auch heute Menschen darunter leiden, dass wir annehmen müssen, dass das auch in Zukunft sein wird, so sehr wir uns auch dagegen stemmen – das alles macht deutlich: Nichts liegt abgeschlossen hinter uns. Die Zeiten sind miteinander verwoben. Das Heute ist der Moment, der uns Gestaltung ermöglicht und uns erlaubt, Einfluss auf eine gute Gestaltung der Zukunft zu nehmen.

Aufarbeitung bedeutet: Die Vergangenheit nicht ruhen lassen, sondern ins Wort bringen. Vision bedeutet: Die Zukunft nicht heranrollen lassen, sondern sie aktiv gestalten.

katholische Kirche Missbrauchsfälle Aufarbeitung

Blickrichtung Zukunft

Dabei darf das Gestern nicht den Ausschlag geben, nur weil es die vertrautere und damit scheinbar sichere Seite der Zeitenwaage ist. Die Blickrichtung muss Zukunft sein, weil hier Möglichkeit zur Veränderung liegt:

  • „Letztgültige Entscheidungen“ halte ich deshalb gerade in lehramtlichen Fragen für falsch. Man kann die Zeit in ihrem Lauf nicht konservieren. Man kann nur den Laufstil dynamisch halten.
  • Der Blick auf die eigene Vergangenheit verklärt die Dinge und produziert blinde Flecken. Deshalb brauchen wir den fremden Blick in unser Haus, sollten ihn schätzen und dem Urteil derer trauen, die unvoreingenommen auf unsere Vergangenheit schauen. Deshalb ist Unabhängigkeit in der Aufarbeitung von Schuld und Versagen wichtig.
  • Zur Balance gehört auch, gemeinschaftliche Riten des mahnenden Gedenkens zu entwickeln. Die fehlen uns im Fall von Missbrauch noch. Das macht das Reden darüber so schwer. Größtmögliche Sicherheit können wir nur gemeinsam schaffen. Kollektive Übernahme von Verantwortung geht nur, wenn kollektive Schuld der Vergangenheit anerkannt wird. Die Sprache der Gemeinschaft sind Riten. Deshalb brauchen wir sie.
  • Mit Blick nach vorne gehört zum Austarieren der Balance ein gemeinsam gefasster Beschluss, die Zukunft gut gestalten zu wollen. Dazu bedarf es einer Vereinbarung, des Willens zum Experiment mit der Option des Scheiterns. Dazu gehören Kreativität und Freude am gemeinsamen Glauben, der nicht nur unser eigenes Haus erfüllt, sondern weit nach draußen strahlt. Das geht auch nur, indem wir reden. Auch miteinander, aber zuallererst mit denen, die draußen sind. Ein bisschen mehr Selbstironie und Humor wünsche ich meiner Kirche. Ein bisschen weniger staubtrockene Ernsthaftigkeit, wenn es um uns selbst und unsere Zukunft geht. Wir müssen renovieren. Es geht nicht anders. Wer sagt, dass das nicht auch Spaß machen kann und ein Segen ist?
  • Während im Blick auf die Vergangenheit viel Selbstreflexion steckt und stecken muss, dürfen wir mit Blick in die Zukunft einfach nach den Themen greifen, die wir mit unseren Zeitgenoss*innen teilen: Von Klimawandel bis Digitalisierung, von der Sorge um die Armen und Schwachen bis zur globalen Verantwortung und zur Friedenssicherung – es geht nicht zuerst um Kirche. Es geht darum, als Menschen miteinander zum Wohle möglichst vieler Welt zu gestalten. Dass wir das als Kirche aus unserem Glauben heraus tun und immer wieder erklären, dass Gott Grund unserer Haltungen und Handlungen ist, halte ich für selbstverständlich.

Warum liegen uns Frieden und Demokratie so am Herzen?

Gerade uns Deutschen müsste diese Scheitelposition des Jetzt und Hier in der Mitte der Waage doch sehr bekannt sein: Was schleppen wir da für einen Berg von Vergangenheit mit uns herum. Es ist mitnichten nur ein positiver, nostalgischer Schatten, längst nicht nur das verklärte Bild der Deutschen als Volk der „Dichter und Denker“. Es ist vor allem der des Volkes, das einen Weltkrieg verursachte, das zu bestialischen Taten fähig war, präzise organisiert. Dessen Teilung nach dem Krieg ein weiteres Unrechtsregime hervorbrachte.

Und doch sind wir auch das Land, in dem das Gedenken an die Schrecken dieser Vergangenheit ein zentrales Moment ist, das zum Handeln in Richtung Zukunft motiviert.

Deshalb liegen uns Frieden, Europa, die Stärkung der Menschenrechte, deshalb liegen uns Gemeinschaft und Demokratie so sehr am Herzen.

Unser Wohlstand wuchs aus der Erkenntnis, was nie mehr sein darf. Er wuchs auch aus einem optimistisch-farbenfrohen Wirtschaftswunder-Optimismus. Man darf der Zukunft auch beherzt entgegenlachen, ohne dabei die Vergangenheit zu vergessen. Darin liegt unserer Stärke und darin steckt die Vision, die uns leitet. Beides ist richtig: Der Blick zurück ebenso wie der Blick nach vorn.

„Wir wissen doch, wie Aufarbeitung geht!“

Als Katholik*innen in Deutschland sollten wir aus diesen Erfahrungen in säkularen Bereich schöpfen und sie zu einer Bereicherung für unsere Kirche machen. Wir wissen doch, wie Aufarbeitung geht. Als Beispiel sei das Stasi-Unterlagen-Archiv genannt oder die Gedenkstätten an Orten des NS-Terrors. Wir wissen doch, wie wichtig Erinnern ist und der zeichenhafte Umgang mit kollektiver Schuld. Wir wissen doch, wie motivierend eine gemeinsame Vision sein kann. Wir kennen uns doch aus mit der Kraft der gemeinsamen Haltung, der gemeinsamen Hoffnung. Anders wäre die Rolle Deutschlands in der Welt nicht erklärbar. Wie stehen doch – zumindest jetzt und momentan – ziemlich stabil auf dem Scheitelpunkt des Heute. Diese Erfahrung könnte unser Beitrag für die Weltkirche sein. Hoffentlich wird sie das.

Foto: © alice d photography/photocase.com, © birdys/photocase.com


Katharina Goldinger

Theologin und Pastoralreferentin im Bistum Speyer, Religionslehrerin an einem Speyerer Gymnasium und Ansprechpartnerin für den Synodalen Weg im Bistum Speyer, sehr gerne in digitalen (Kirchen-)Räumen unterwegs, ehrenamtlich im Team der Netzgemeinde da_zwischen aktiv.

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