Franz von Assisi und ein Impuls für eine queersensible Kirche
Die Debatte um systemische Ausgrenzung queerer Menschen in der Kirche dauert an: Arbeitsrechtlich haben sich zwar in den letzten Monaten deutliche Fortschritte ergeben, im Blick auf Menschenbild und tägliches Miteinander sind aber noch viele Hürden zu nehmen. Stefan Diefenbach und der Franziskaner Norbert Lammers treten ein für eine queersensible Kirche. Hier geben Sie einen Impuls aus einer der entscheidenden Erzählungen über Franz von Assisi.
Irgendwer hat einmal sinngemäß gesagt: „Manchmal tritt jemand in mein Leben und verändert meinen Alltag. Diese Begegnung halten wir in unserem Herzen lebendig.“ Eine divers-bejahende Kirche beginnt mit Begegnungen, die alle und alles gelten lassen in je ihrer Würde.
In der franziskanischen Tradition und Spiritualität gibt es bis heute einen Klassiker an textlicher Überlieferung, ein franziskanisches Markenzeichen, das genau dies ausdrückt. Gemeint ist die Begegnung des Franziskus mit dem Aussätzigen. Eine Begegnung, die im Leben und für den inneren Prozess des Franziskus eine entscheidende und ganz wesentliche Bedeutung hat. Begegnungen können durchaus eine Botschaft in sich tragen, die manches auf den Kopf stellt oder dem Leben eine neue, andere Richtung geben kann. In vielem sicher auch heilsam und Leben fördernd. Sie tragen zum Mensch-Werden und Mensch-Sein bei.
Anders als sonst
In der Dreigefährtenlegende wird die Begegnung überliefert: „Und während er sonst gewohnt war, vor Aussätzigen großen Abscheu zu haben, tat er sich jetzt Gewalt an, stieg vom Pferd, reichte dem Aussätzigen ein Geldstück und küsste ihm die Hand. Und nachdem er von ihm den Friedenskuss empfangen hatte, stieg er wieder aufs Pferd und setzte seinen Weg fort … Wenige Tage später nahm er viel Geld mit sich und begab sich zum Hospital der Aussätzigen. Nachdem er alle versammelt hatte, gab er jedem von ihnen ein Almosen und küsste ihnen die Hand“ (Gef 11, FQ 618).
Die Begegnung mit dem Aussätzigen ist eine prägende Begegnung und zu einer ganz wesentlichen Erfahrung geworden. Gerade deshalb erinnert Franziskus sich in seinem Testament an die Begegnung mit dem Aussätzigen. Sie soll nicht verloren gehen. In meinem Zimmer befindet sich eine kleine Holzfigur, die mir vor vielen Jahren einmal zum Abschied geschenkt worden ist. Sie erinnert mich an mein Bild, das ich anlässlich meiner Priesterweihe ausgewählt habe: Franziskus und der Aussätzige. Zugegeben, es ist eher ein ungewöhnliches Bild für diesen Anlass. Auf einer meiner Assisifahrten ist mir diese Holzfigur in den Blick gekommen, und sie ist mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Es hat mich berührt – und beschäftigt mich heute immer noch. Die kleine, einfache Holzfigur in meinem Bücherregal erinnert mich täglich daran und lädt mich ein nachzudenken und nachzuspüren.
Berührung und Umarmung
Eine Holzfigur
auf den ersten Blick
nichts Besonderes
und doch:
Kostbares verbirgt sich
zeigt sich
Zwei und doch eins
aus einem Stück Holz geschnitzt
bringt hinein ins Fragen
Nachspüren
der Bedürftigkeit
Inne werden
der Liebesfähigkeit
Was suchst du
für dich?
Was brauchst du
für dein Mensch-Werden
Mensch-Sein?
Wie oft erfahre ich dich
und mich
als bedürftig?
Wie oft nehme ich dich
und mich
gebend und empfangend
wahr?
Dir nahe sein zu dürfen
dich an mich heranzulassen –
alles andere
als selbstverständlich?!
Berührung und Umarmung
lassen einander
Geborgenheit spüren
Du und ich
aus einem Holz geschnitzt
Leben entfaltet sich – immer
im hörenden
spürenden Miteinander
Norbert Lammers
Wer hat gegeben und wer hat empfangen?
In einer seiner Ermahnungen schreibt Franziskus: „Beachte, o Mensch, in welch erhabene Würde Gott der Herr dich eingesetzt hat, da er dich dem Leibe nach zum Bild seines geliebten Sohnes und dem Geiste nach zu seiner Ähnlichkeit erschaffen und gestaltet hat“ (Erm 5, FQ 48). Mensch und Gott stehen zueinander in Beziehung. Gott ist sich nicht zu groß, um sich in der Gestalt des Menschen finden zu lassen. Und der Mensch ist nicht zu klein, um Ebenbild Gottes zu sein. Hier wird groß von Gott und vom Menschen gedacht und gesprochen. „Beachte, o Mensch, in welch erhabene Würde Gott … dich gesetzt hat“.
Die Begegnung mit dem Ausgegrenzten, einem Menschen hat in Franziskus die Wendung bewirkt. Für mich stellt sich die Frage: Wer hat in dieser Begegnung eigentlich wen beschenkt? Wer hat gegeben und wer hat empfangen?
Zwei Denkmöglichkeiten tun sich für mich auf. Die eine Möglichkeit, die auf den ersten Blick sichtbar wird: Franziskus hat dem Aussätzigen gegeben, ihn beschenkt. Er steigt vom hohen Ross herunter, geht auf den Aussätzigen zu, gibt ihm in seiner Barmherzigkeit ein Geldstück in die Hand und küsst ihn. Thomas v. Celano hat es wörtlich so beschrieben: „Als ihm der Aussätzige die Hand entgegenstreckte, um ein Almosen zu empfangen, legte er ihm Geld hinein und küsste ihn“ (2 C 9, FQ 305). Franziskus – der Gebende, der Aussätzige – der Empfangende.
Ich kann die Szene mit dem Aussätzigen aber auch anders deuten oder auf mich wirken lassen. Franziskus vollzieht einen Standortwechsel. Er gibt sein Höher-Sein auf, begibt sich auf Augenhöhe mit dem Aussätzigen und gibt ihm. Und der Aussätzige? Er empfängt nicht nur, er beschenkt auch den Franziskus – indem er ihn küsst, den Friedenskuss gibt.
In der Dreigefährtenlegende wird es so ins Wort gefasst: „stieg vom Pferd, reichte dem Aussätzigen ein Geldstück und küsste ihm die Hand. Und nachdem er von ihm den Friedenskuss empfangen hatte, stieg er wieder aufs Pferd und setzte seinen Weg fort“ (Gef 11, FQ 618). Beide geben und empfangen – ein Miteinander auf Augenhöhe. Der Aussätzige wird nicht gesehen als Objekt einer barmherzigen Liebe, und Franziskus ist der eigentlich Handelnde. Sondern: In beiden Personen steckt das Potenzial, das ein Leben eine Wendung, eine Veränderung nehmen kann. Beide sind Handelnde, die etwas bewirken, die Mensch-Werden und Mensch-Sein ermöglichen.
Buchempfehlung
Die Kampagne „Out in Church“ und die ARD-Dokumentation „Wie Gott uns schuf!“ sorgten Anfang Januar 2022 für einen Paukenschlag: Es war das größte Outing in der katholischen Kirche jemals, als sich 125 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen kirchlichen Lebens in Deutschland unter anderem als lesbisch, schwul, bi, trans*, inter, queer und non-binär outeten.
Nobert Lammers und Stefan Diefenbach entwickeln in diesem Buch ihre Vision von einer queer-sensiblen Kirche, inspiriert durch die franziskanische Spiritualität. Kann die katholische Kirche trotz heftig geführter Auseinandersetzungen eine Heimat für Menschen vielfältiger sexueller Identitäten sein?
Norbert Lammers, Stefan Diefenbach:
Queer in Church. Wie ich mir eine divers-bejahende Kirche wünsche
ISBN 978-3-429-05859-3
echter Verlag 2023
Bitte keine “Streitfrage”
LGBTIQ+-Menschen möchten nicht ein „umstrittenes Thema“ oder gar eine „Streitfrage“ sein, aber wir möchten auch nicht nur „willkommen“ geheißen oder gar „toleriert“ werden. Denn wir sind nicht aussätzig, wir sind nicht die Anderen, die außen vor der Tür stehen und je nach Beschlusslage aufgenommen oder abgewiesen werden können. Wir sind mittendrin. Wir sind Kirche und waren es schon immer.
Menschen besitzen die Fähigkeit, sich ansprechen und verwandeln zu lassen – und können zu Veränderungen beitragen. Aber nicht nur Menschen allein bewirken (Ver-) Wandlungen. Glaubende Menschen sprechen immer auch von der Erfahrung, dass auch Gott in ihnen am Werk ist. Sie fühlen es in ihrem Inneren.
Als glaubender Mensch brauche ich auch die Beziehung zu einem göttlichen Du, von dem ich spüren und mich vergewissern kann: Ich bin geliebt – und bleibe geliebt! In einem betenden Wort von Romano Guardini heißt es: „Immerfort empfange ich mich aus deiner Hand. So ist es und so soll es sein. Das ist meine Wahrheit und meine Freude. Immerfort blickt dein Auge mich an, und ich lebe aus deinem Blick, du mein Schöpfer und mein Heil. Lehre mich in der Stille deiner Gegenwart, das Geheimnis zu verstehen, dass ich bin. Und dass ich bin durch dich und vor dir und für dich“ (zitiert nach GL 19,1).
Mehr als ein Wechsel der Blickrichtung
In der Begegnung mit dem Aussätzigen spricht Franziskus rückblickend in seinem Testament von der Wechselseitigkeit der Begegnung bzw. Beziehung: „Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt“ (Test 1–3, FQ 59).
Nicht Franziskus hat es gemacht oder die (Ver)Wandlung gewirkt, sondern „der Herr“ ist es gewesen. Er hat „mich unter sie geführt“ – und „ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen“. Franziskus hat sich ansprechen und führen lassen – und darin ist ihm etwas aufgegangen und er wurde ein anderer. Sein Denken wurde geweitet und sein Handeln hat sich verändert. Dem kann ich selbst auch einmal nachspüren. Welche Menschen und Situationen haben mich wirklich erreicht? Wo habe ich mich berühren lassen? Wie hat es mich verändert in meinem Blickwinkel, in meinem Denken, meinem Handeln? Es gibt sie sicher – die Menschen, die Begegnungen und Situationen.
Der Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus “Queer in Church. Wie ich mir eine divers-sensible Kirche wünsche” (Echter Verlag 2023)
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