Tischkulturen

Zusammenleben  

Tischkulturen

Wie ein einfaches Möbelstück unseren Alltag prägt

Neben dem Esstisch gibt es unzählige andere Tische: zum Beispiel den Schreibtisch, den Nachttisch oder den Stehtisch. Moritz Kuhlmann SJ erzählt von den unterschiedlichen Tischen, die seinen Alltag in verschiedenen Kulturen geprägt haben.

Was ein Tisch bewirken kann, habe ich gelernt, als wir im Kosovo mit Gymnasiasten Kontakt zur Roma-Community aufbauten. Wie kann man ein Roma-Viertel betreten? Was hilft, um Beziehungen aufzunehmen? Ein einfacher Tisch wurde dabei zu einem erstaunlichen Werkzeug. Auf dem Lehmboden zwischen den Hütten stellten wir einen kleinen Klapptisch auf – schon war ein Raum da.

Um ihn versammelten sich Menschen und kamen ins Gespräch; Kinder und Jugendliche, die sonst Müll sammelten, um die Familie durchzubringen, konnten sich an Stift und Papier erproben; der lahme Straßenhund fand Schatten, und uns gab er ein Gefühl von Sicherheit. Nachdem zwischen Gymnasiasten und Roma-­Jugendlichen bald eine Gemeinschaft gewachsen war, fand sich der Klapptisch im Zentrum unseres Morgengebets wieder.

Koran, Bibel und Kerze tragend bereitete er den Ort für Gesang und Lesung, Stille und Bitte: dass die Mama heute früher nach Hause kommt; dass der Papa Arbeit findet und am Abend nicht böse ist; und dass Lejla auch morgen zum Lesenlernen zu Besuch kommt. Als die Gemeinschaft stark genug war, bauten wir um den Tisch herum ein Haus. Dort steht er noch heute, als eine Mitte des Integrationsprojekts „Concordia Tranzit“.

In der Uni, auf der Intensivstation

In China sitze ich nun an anderen Tischen. Da sind die oktagonalen Tischinseln verstreut im Vorlesungssaal, Power Point und Gesichtsaufnahme des Vortragenden sind auf einem die vier Wände durchziehenden Bildschirmband aus jeder Perspektive sichtbar. Studierende verwenden mindestens drei Geräte gleichzeitig, Smartphone, Laptop und Pad, an den Tischgruppen sind sie in permanentem Gespräch über die parallele Vorlesung. Da sind die kreisrunden Tische in den Universitätskantinen, die 40.000 auf dem Campus Wohnende (von Studierenden über Reinigungspersonal und Gärtnern zu Professoren mit deren Familien) versorgen. An den runden Esstischen wird nur gemeinsam gegessen, keiner bestellt ein eigenes Gericht, sondern bedient sich an den in der Mitte für alle zugänglichen Speisen, zieht sie Bissen für Bissen über einer kleinen Reisschale zu sich.

Oder die Tischtabletts im 11er-Intensivstation-Zimmer eines Pekinger Krankhauses, in dem die Pflegenden nachts eine Liege ausklappen. Sie wohnen im Krankenzimmer, ihr persönlicher Bereich beschränkt sich auf eine Schublade.

Da sind die Plastiktische unter Planen um das Holzhaus mitten in einer Teeplantage, an dem die 70, 80 Verwandten bewirtet werden, die für das siebentägige Totengedächtnis alles stehen und liegen lassen. Da sind die Opfertische in den Kirchen und Tempeln, die daran erinnern, dass der Mensch in all dem Alltäglichen, das er am Tisch wirkt, letztlich dem dient, was ihm heilig ist – oder gerade die Abwesenheit jeglichen Tischs in den Meditationshallen des Zen-Buddhismus, wo das Sitzen ohne Tisch das Dasein ohne Müssen zeigt.
Was sind die Tische in Deinem Leben? Wie gestalten sie Deinen Alltag?

Das Jesuiten-Magazin kostenlos abonnieren

Jesuiten Magazin Cover

Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 3/2023 vom Jesuiten-Magazin. Das Magazin erscheint viermal jährlich und widmet sich Aspekten aus dem Orden und greift ein Schwerpunktthema auf. Heft 3/2023 dreht sich um: Essen.

Hier erfahren Sie mehr über das Magazin und können es kostenlos abonnieren:

Foto: © inkje/photocase.com

Weiterlesen

18.04.2025 Sinn

Wenn wir wegschauen, dann werden die Steine schreien

Statt Heldensaga und perfekter Erlösung erzählt Ostern von einem einfachen Mann auf einem Eselfohlen, von enttäuschten Frauen am Grab – und von einem Gott, der seiner „verbeulten“ Kirche trotzdem zutraut, das Licht in die Welt zu tragen. In Zeiten pompöser Inszenierungen und gefährlicher Feindbilder ist diese Botschaft ein radikaler Aufruf zur Ehrlichkeit, Mitmenschlichkeit und Hoffnung.

weiter
07.04.2025 Zusammenleben
Nürnberg Religionsgespräch

Feiern, vergessen, fortsetzen?

500 Jahre nach dem Religionsgespräch in Nürnberg wird Geschichte wieder einmal als Legitimation für die Gegenwart instrumentalisiert – während die unbequemen Fragen nach Macht, Angst und Populismus im Festakt untergehen. Doch was wäre, wenn wir nicht nur die Sieger feiern, sondern auch die Stimmen der Verlierer hören würden?

weiter
31.03.2025 Zusammenleben
Achtsamkeit Beziehung

Achtsamkeit – der unterschätzte Beziehungsmotor

Glauben Sie noch an romantische Gesten als Allheilmittel? Dann wird es Zeit aufzuwachen! In einer Welt, in der Beziehungen täglich auf dem Prüfstand stehen, könnte der Schlüssel zum Glück in der bewussten Achtsamkeit liegen – oder Ihre Partnerschaft bleibt auf der Strecke.

weiter