Frank Berzbach über den unterschätzten Wert der Routinen und Rituale
Rituale sind alles andere als Kleinigkeiten im Alltag. Sie geben ihm Struktur. Doch damit nicht genug. Rituale helfen dabei, das eigene Leben wieder ernst zu nehmen. Der Schriftsteller Frank Berzbach erzählt von eigenen Rituale – und beschreibt, wie sie ihn an den Gehalt der Dinge erinnern.
Mit einem Tee sitze ich unter dem Bild des lesenden Dominikus von Fra Angelico. Der Sessel stößt ans Bücherregal. Die Titel sind wohlgeordnet, nur auf der Höhe des kleinen Tisches ist ein Regalboden mit dem »Handapparat« – Bücher zum Stöbern, zum Sich-darin-Verlieren, Lieblingsstücke. Außer für mich zeigt sich hier niemandem ein Zusammenhang: die Tagebücher von Marie Luise Kaschnitz, Jesuitisches, Interviews mit Yoko Ono und John Lennon, ein Buch über bedeutende Tagebücher, japanische Gedichte. Eine Ordnung, die zum Perlentauchen einlädt.
Ein kleines Bändchen von Karl Rahner fällt in meine Hand. Ich lese, dass man sich früher bekreuzigte, bevor man ein neues Brot anschnitt. Darin liegt unendliche Weisheit. Schon im Vaterunser wird das tägliche Brot erwähnt, warum sich nicht in einer kleinen Alltagszeremonie daran erinnern? Der Überfluss birgt so viele Gefahren, wir bezahlen jede Erleichterung mit dem Vergessen, dem Verflachen. In einer halben Stunde fahren wir mit der Straßenbahn bis ans andere Ende einer Großstadt – »Routenplaner« geben uns unmissverständlich Auskunft darüber: Mit dem Rad brauchen wir eine Stunde, zu Fuß fast vier Stunden. Wer so lange gelaufen ist, der spürt, dass er weit von zu Hause entfernt ist. Auch der regelmäßige Weg, den wir bewusst wählen, wird zum Ritual.
Rituale offenbaren den Gehalt der Dinge
Alltagsrituale erinnern uns an den Gehalt der Dinge. Ich fühle mich seltsam dabei, aber manchmal bedanke ich mich bei einem Autor, einer Autorin still, wenn ich ein Buch aufschlage. Ich bekreuzige mich, bevor ich esse. Meinen Zen-Lehrer fragte ich einmal, wann ich diese kleine Verbeugung, Gasshō genannt, ausführen solle. Er sagte: »Na, immer! Wer sich verbeugen kann, kann alles.«
Wer sich verbeugt, hat alles verstanden. Er hält inne, macht sich kleiner, er verbeugt sich vor etwas – also ehrt, sieht, erkennt etwas. Das kann ein heiliger Raum sein, ein neues Brot oder ein Buch; vor meinem Schreibzeug sollte ich mich öfter verneigen – nur so schreibt man tiefere Texte.
Der Anglizismus »Morning Routine« beschreibt einen Zeitgeist, der die Sehnsucht nach rituellen Wiederholungen kennt. Alter Wein in neuen Schläuchen: Morgengebet, Frühmesse, Frühstücksrituale, Frühsport – Althergebrachtes. Sich verbeugen. Sich bewusst ankleiden, sich »herausputzen« für den Tag. Die Bewusstheit am frühen Morgen beweist, dass man sein Leben ernst nimmt.
Ist es denn selbstverständlich, dass ich wieder wach wurde, noch lebe, wiedergeboren wurde, auch heute Morgen? Wozu bin ich in den Tag geschickt? Es ist eine Wahrnehmungstäuschung, dass alles wie immer sei – nie ist alles wie immer, nichts bleibt, alles verändert sich. Und wenn nicht, sollte ich den Ereignissen eine andere Reihenfolge geben, um sie wieder zu bemerken.
Die Klänge Haydns oder Mozarts, die Kraft Duke Ellingtons
In einem anderen Buch neben meinem Sessel finde ich einen Bericht von Mönchen, die abends ihre gespülten Teeschalen im Bewusstsein neben das Futon stellen, ihre Leben würden enden. Die Wiedergeburt am nächsten Morgen wird als Lohn für alle bisherigen Handlungen gesehen. Rituale gehen mit der Zeit um, kennen Eintritt, Anfang, Ritualgemeinschaft und erneuerte Rückkehr in den Alltag.
Das sieht bei mir so aus: Ich stehe auf, füttere die beiden Stubentiger, ich koche mir schwarzen und meiner Frau grünen Tee, entzünde ein Räucherstäbchen, lege eine LP auf: Morgenmusik. Die Helle des Barock, die Klänge Haydns oder Mozarts, die Kraft Duke Ellingtons, die gut gelaunte Kreativität der Beatles, der Rolling Stones oder Sam Cookes, die Würde des »King«.
Eine Langspielplatte lang bin ich noch nicht Teil der herausfordernden Arbeitswelt, die mir Pflichten auferlegt, die mich ärgert oder in der ich mich hausarbeitend abmühen muss. Das Ritual steht außerhalb, ist Ressource und Heiligkeit. Während des Tees: ein Gedicht von Goethe oder das Münsterschwarzacher Lesebuch, ein Gebet aus dem »Gebetsnetzwerk des Papstes«, Gespräche, das Wetter einschätzen, die frische Luft von draußen.
Alles hat Belang
So wie der Sammler die Dinge vom Fluch der Nützlichkeit befreit (Walter Benjamin), so befreit die kleine Zeremonie den Alltag von ihrer Belanglosigkeit. Alles hat Belang. Wenn ich die Treppenstufen hoch zu meinem Schreibzimmer auf St. Pauli zähle, 73, dann ist der Aufstieg in den Elfenbeinturm ein anderer. Ich spüre meinen Gang, die Höhe, die Stufen im Ablauf der Zeit. Das Knacken des Stücks Kandis im Tee, die Tiefe der Klänge.
Neulich saß ich in einem Café in einer mir fremden Stadt, das Reisetagebuch dabei. Auf einem Bambustablett ein kleines Glas Wasser und getöpferte Kaffeeschalen, nur der obere Rand lasiert, im unteren Teil der rauere Ton. Ein goldener Löffel und vorzüglich zubereiteter Kaffee. Kurz sandte ich wieder meinen Dank zum Himmel, generell für die ganze Situation. Den Kaffee in meiner Hand lebte ich mit dem goldenen Löffel im Mund; auch wenn das Leben einen nicht ins wohlhabende Nest gesetzt hat, im Reichtum des Augenblicks sind wir seelische Millionäre. Wenn wir ihn wahrnehmen; wenn wir ihn zur Zeremonie, zum Ritual erklären.
Ich möchte mich an den gegenwärtigen Moment erinnern, die Dinge sehen, die vor mir liegen. Ein Mensch, eine von Menschenhand getöpferte Schale. Sie lenkt mich erst zu mir, dann über mich hinaus, ich widme mich nun dem Menschen, mit dem ich auf einem Sofa sitze, in einem Bett erwache, der neben mir durch die Stadt geht.
Heilige Messe
So wie die Heilige Messe beginnt, verläuft und endet, wie ich in sie hineingehe, bete und sie verlasse, so verläuft jede Minute des Tages, so verläuft als unüberschaubares Gesamtritual das Leben. In der Gegenwart kann ich die Abläufe prägen und empfangen, im Übergroßen waltet die Gnade, die mich lockt und hält. Ich halte die getöpferte Teeschale und mein Blick fällt auf die so dünne Zigarette einer Frau – der Rauch steigt auf, als wäre er Teil einer Huldigung an den Sommer und die Wärme, Opfergabe und Segnung. Es braucht keine Worte.
Ich schlage das Buch zu, stelle es in den Handapparat zurück und bedanke mich bei den Meistern der Vergangenheit, mein Tee ist getrunken und ich schaue, wie ich zurückkehre in die Welt der Arbeit. Auch für sie werde ich Rituale erfinden.
Zur Lektüre:
Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Campus, Frankfurt/Main, 2005
Cees Nooteboom: Rituale. Roman. Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1995
Buchempfehlung

Die Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch »Das Alphabet der Lebenskunst. Was dem Alltag Tiefe verleiht«.
Seit der Antike beschäftigt uns die Ars vivendi – »die Kunst zu leben«. Was macht sie aus, die Kunst des Lebens? Dazu will Frank Berzbach Anregungen geben: in 69 Miniaturen von A wie Achtsamkeitsübung über F wie Freundschaft bis W wie Wetter; mal sachlicher oder poetischer, ästhetischer oder kulturkritischer – je nach Stichwort.
Allen Texten gemeinsam ist: Sie sollen dem Alltag mehr Tiefe geben. Damit verbindet sich auch die Hoffnung, dass nachvollziehbar wird, was das Unsagbare ausmacht; es geht im Leben um mehr als um pure Vernunft.
Frank Berzbach: »Das Alphabet der Lebenskunst. Was dem Alltag Tiefe verleiht«
448 Seiten, bene!-Verlag, ISBN 978-3-96340-287-6
Portraitfoto: © Irene Zandel