Wie sich das Gefühl von Ohnmacht oft hinter Masken versteckt
Ohnmacht ist ein Gefühl, das unsere Zeit prägt: Man fühlt sich wehrlos, ausgeliefert und schwach. Oft geht dieses Empfinden damit einher, dass wir uns als unfähig oder unzulänglich, als minderwertig oder wertlos, als gelähmt oder gedemütigt erleben. Mit allen Fasern unseres Körpers wollen wir uns befreien von dem bedrohlichen Gefühl, dass uns die Hände gebunden sind und der eigene Wille außer Kraft gesetzt ist. All dies weckt verschiedenste weitere Gefühle: Angst und Wut, Empörung und Trauer, Schuld und Verzweiflung, Lähmung und Depressivität. Die Ordensfrau Melanie Wolfers beschreibt, wie sich Ohnmacht im Alltag maskiert – und wie wir sie erkennen.
Auch für psychisch stabile Menschen bedeutet es extremen Stress, wenn ihnen plötzlich die Kontrolle über ihr Schicksal entgleitet und sie zum Spielball der Ereignisse werden. Denn im Er-leiden von Ohnmacht werden wir Menschen in unserem sensibelsten Punkt getroffen und geschwächt: in unserem Selbstwertempfinden. Zu diesem gehört nämlich die Erfahrung, selbst etwas in die Hand nehmen und bewirken zu können.
Hinzu kommt, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Autonomie und Selbstbestimmung hoch geschätzt werden und im Gegenzug Ohnmacht und Angst als verächtlich gelten. Sich schwach und hilflos zu fühlen ist einfach nicht angesagt! Das Gefühl der Ohnmacht gehört zu den am stärksten abgewehrten Gefühlen der modernen Gesellschaft.
Es gibt einige typische Fluchtrouten, um dem Ohnmachtsgefühl auszuweichen. Vermutlich sind auch Ihnen einige davon vertraut …
Fluchtrouten für Ohnmacht
Eine häufige Vermeidungsstrategie liegt darin, das eigene Unbehagen zu betäuben oder sich abzulenken. Manche stopfen sich mit Essen voll oder gehen einkaufen, flüchten in die Weiten des Internets oder stecken sich Kopfhörer mit Noise-Cancelling ins Ohr. Andere sind ständig »busy, busy« und stürzen sich in Arbeit oder Freizeitaktivitäten – nach dem Motto:
»Egal, was: Hauptsache, ich bin beschäftigt und komme nicht zur Besinnung!« Als ob einen die Wahrheit des eigenen Lebens nicht einholen könnte, solange man für sie keine Zeit hat …
Weil man das Ohnmachtsgefühl so schwer zulassen kann, versteckt es sich gerne unter verschiedenen Masken: Da poltert jemand wütend los; ein anderer nimmt eine Pose der Überlegenheit und Coolness an, um vor sich und anderen die eigene Hilflosigkeit zu überspielen. Und eine Dritte fühlt eine diffuse Traurigkeit in sich, ohne genau zu wissen, warum. Der Vorteil von solchen Maskeraden liegt auf der Hand: Wir spüren nicht mehr unsere Ohnmacht, sondern ein etwas erträglicheres Gefühl, mit dem wir diese übertünchen.
Schuldgefühle und Selbstvorwürfe
Eine Maske, die auf den ersten Blick vielleicht befremdlich wirkt, sind Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. Studien zeigen beispielsweise: Frauen, die eine Fehlgeburt erlitten haben, machen sich häufig Selbstvorwürfe, warum sie sich nicht mehr Ruhe gegönnt oder nicht besser für sich und ihr Ungeborenes gesorgt haben. Damit unterstellen sie indirekt, dass sie es in der Hand gehabt hätten, dass ihr Kind gesund auf die Welt kommt – ein Gedanke, der unsere Hilflosigkeit angesichts des Todes abmildert. Offensichtlich ertragen Menschen Schuldgefühle leichter als das Gefühl von Ohnmacht!
Schuldgefühle dieser Art helfen, das vermeintlich Unerträgliche auszuhalten. Doch der innerseelische Gewinn ist teuer erkauft, denn zugleich hindern sie einen daran, das Unausweichliche anzunehmen – und dadurch beeinträchtigen sie dessen Verarbeitung. Selbstvorwürfe wirken wie ein Schmerzpflaster, das die aufbrechenden Gefühle von Sinnlosigkeit oder Trauer betäubt – aber zugleich lassen sie diese chronisch werden. Denn verletzte Gefühle, die aus dem Bewusstsein verdrängt werden, können nicht heilen, sondern nisten sich dauerhaft ein.
Angesichts von negativen Erfahrungen, die wir weder erklären noch beherrschen können, kommt es in ähnlicher Weise auch zu Schuldzuweisungen. So ist es beispielsweise in Coronazeiten einfacher, Fehler aufzuspüren und einen Schuldigen an den Pranger zu stellen, als anzuerkennen, dass wir gegenüber einem kleinen Virus derart machtlos sein können.
Für alles eine Erklärung parat zu haben vermittelt dem Menschen hingegen Sicherheit. In unserer Welt aber bleibt vieles rätselhaft und offen.
Verschwörungstheorien können da wie Balsam auf die Seele wirken, denn sie schaffen es, ihren Anhängern die Illusion von überlegenem Wissen zu vermitteln und dadurch die Ohnmacht zu verbannen.
Lieber Wut empfinden, als sich Ohnmacht eingestehen
Die Maske, unter der sich das Ohnmachtsgefühl vielleicht am häufigsten versteckt, ist die Wut. Dass angesichts der eigenen Machtlosigkeit aggressive Impulse aufsteigen, ist eine spontane, gesunde Gegenwehr. Der springende Punkt ist, wie man mit dieser inneren Regung umgeht. Und hier hapert es oft: Viele empfinden lieber Wut, als dass sie sich ihre Ohnmacht eingestehen. Ein Beispiel sind Beziehungskrisen: Oft fällt es Menschen leichter, auf die geliebte Person wütend zu sein, als den ohnmächtigen Schmerz zu ertragen über die Kälte und Distanz, die zwischen ihnen entstanden sind. Es scheint, dass insbesondere Männer schnell stinksauer reagieren, wenn sie sich ohnmächtig fühlen.
Viele Arten der Wut zielen darauf, für die eigenen Bedürfnisse und Werte einzustehen, indem man aktiv und zielbewusst einen Widerstand überwindet und aus dem Weg räumt. Die ohnmächtige Wut hingegen ist viel vager, unbestimmter, aber auch viel destruktiver gegen die Außenwelt und gegen sich selbst gerichtet: Da lässt man einer nervigen Nachbarin die Luft aus den Fahrradreifen ab, zeigt jemandem die kalte Schulter oder schlägt verbal oder physisch um sich.
Ein solches Agieren ruft ein Empfinden von Stärke und Überlegenheit hervor und verdeckt die eigene Ohnmacht. Und das fühlt sich gut an! Denn lieber aktiv als passiv sein; lieber angreifen als sich schutzlos und preisgegeben erleben.
All das hat zur Folge: Menschen können sich und ihrem Umfeld ausgerechnet dann sehr gefährlich werden, wenn sie sich ohnmächtig fühlen! Dies beginnt beim wütenden Fußtritt nach dem Hund und reicht über Schikanen im Betrieb oder Sportverein bis hin zum Einsatz zerstörerischer Waffen ohne Rücksicht auf Verluste. Für das, meist unbewusste, Ummünzen von Ohnmacht in zerstörerische Aggression zahlen wir Menschen einen hohen Preis.
Widersprüchliches Phänomen
Doch Ohnmacht und Kontrollverlust können auch zu einem beinahe widersprüchlich anmutenden Phänomen führen: Dann reagieren Betroffene nicht aktiv-aggressiv, sondern fallen in eine depressive Passivität. Sie fliehen vor der Ohnmacht – und vor ihrer eigenen Kraft! –, indem sie resignieren und (sich) entmutigt aufgeben. Dies kann verschiedene Formen annehmen: Da legt sich eine namenlose Traurigkeit wie eine schwere Decke auf einen. Jemand zieht sich niedergeschlagen zurück und ergibt sich in die gefühlte Aussichtslosigkeit. Eine andere Person emigriert innerlich und wird teilnahmslos gegenüber gesellschaftlichen Prozessen. Vor allem aber verhindert eine solch depressive Niedergeschlagenheit, dass wir aktiv werden. Anstatt Gelegenheiten beim Schopf zu ergreifen, lassen wir sie passiv an uns vorüberziehen.
»Nimm der Ohnmacht ihre Macht«
Die Pandemie und der Ukraine-Krieg haben uns vor Augen geführt, dass etwas Unvorhergesehenes unsere Welt einfach so auf den Kopf stellen kann. Und viele erleben sich ohnmächtig angesichts von Umweltzerstörung und Ungerechtigkeit. Doch auch im Alltag begleitet uns das Gefühl von Kontrollverlust und Hilflosigkeit: wenn eine Beziehung zerbricht, wenn wir erkranken oder auch nur im Stau stehen. Melanie Wolfers zeigt auf, wie wir besser mit Situationen umgehen können, in denen wir uns ausgeliefert fühlen. Sie entfaltet sieben Grundhaltungen, die uns helfen, der Ohnmacht ihre Macht zu nehmen und die Kraft zu entdecken, die in uns wohnt. Für ein zufriedenes, stabileres Leben.
Melanie Wolfers:
Nimm der Ohnmacht ihre Macht.
Entdecke die Kraft, die in dir wohnt
bene! Verlag 2023
Portraitfoto: © Ulrik Hölzel