Digitales Zeitalter

Sinn  

Mensch werden im digitalen Zeitalter

Humanismus unter Druck: Warum neue Antworten nötig sind

Das traditionelle Verständnis von Menschenwürde und Humanismus gerät durch politische Polarisierungen, die Klimakrise, Digitalisierung und kulturelle Pluralisierung unter Druck. Besonders die Kritik durch China und Russland an einem „westlich“ geprägten Menschenbild, das sich unter anderem in den Erklärungen der Vereinten Nationen niederschlägt, unterstreicht, dass klassische Konzepte von Menschenwürde und -rechten einer erneuten Begründung bedürfen.

Der von Markus Vogt und Ivo Frankenthaler herausgegebene Sammelband „Mensch werden. Christlicher Humanismus zwischen Philosophie und Theologie“ will sich pluralitätstauglich in diesen Diskurs einbringen. Die Herausgeber plädieren für einen „religiös imprägnierten Humanismus“ als ethisches Leitbild, das christlich inspiriert, aber nicht exklusiv religiös ist und als Brücke zwischen Kulturen und Religionen dienen soll.

Wurzeln des Humanismus

Der Sammelband mit insgesamt zwölf Beiträgen beginnt mit einem facettenreichen Einstieg in die historischen Wurzeln des Humanismus. Maximilian Forschner beleuchtet die Stoa, Arnd Küppers das Personverständnis von Jacques Maritain, während Amit Kravitz eine jüdische Perspektive einbringt.

Im zweiten Kapitel wenden sich die Beiträge der christlichen Perspektive zu, insbesondere der Weiterentwicklung der katholischen Soziallehre und der Notwendigkeit anthropologischer Erweiterungen.

Ökologisch erweiterter Humanismus: Mensch und Natur neu denken

Hervorzuheben ist Jochen Ostheimers Beitrag, der die Beziehung zwischen Mensch und Natur beleuchtet und die Dichotomie von „as part of nature“ oder „apart from nature“ [81] analysiert. Er fordert einen „ökologisch erweiterten Humanismus“ [93], der die christliche Trias von Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe durch Schöpfungsliebe ergänzt [93]. Anknüpfend an Martha Nussbaums Capability Approach betont er „geschwisterliche Naturverbundenheit“ als Grundlage gelingenden Menschseins [94].

Ute Heimbach-Steins unterstreicht die Praxis der Menschenwürde, die sich in konkreten Handlungen und nicht nur in deklamatorischen Bekundungen bewähren müsse [109]. Markus Vogts facettenreicher Beitrag stellt „Mensch werden“ als lebenslangen Prozess dar. Ausgehend von Kants Freiheitskonzept definiert er Würde durch individuelle Anspruchs- und Teilhaberechte und betont, dass Freiheit in der „Selbstüberschreitung auf Andere hin“ entstehe [119].

Menschenwürde als Aufgabe, nicht als Gegebenheit

Markus Vogt argumentiert, dass Menschenwürde keine „biologisch vorgegebene Sonderstellung“ [121], sondern eine Aufgabe verantwortlichen Handelns darstellt, die Vergebung, Hingabe, Solidarität [127] und „Demut als Existenzial gelingenden Menschseins“ [125] erfordert. Dies zeigt sich etwa in Form „intelligenter Selbstbeschränkung“ angesichts der Klimakrise [126]. Offenheit für das Fremde dient dabei als Test der Glaubwürdigkeit des christlichen Menschenbilds [127].

Transhumanismus als Herausforderung: Enhancement oder Entmenschlichung?

Das dritte Kapitel widmet sich den Herausforderungen durch Technologie und Transhumanismus. Julian Nida-Rümelin plädiert für eine explizit normative humanistische Anthropologie, die er gegen Kritiken verteidigt, wie die Reduktion auf „krypto-normative“ Naturwissenschaft [136] oder den „Fundamentalismus“ großer Erzählungen [136]. Er betont, dass Demokratie eine Lebensform ist [138] und basiert seine Anthropologie auf der Praxis des „Gründegebens und Gründenehmens“ [141].

Ein Höhepunkt des Bandes bildet die Auseinandersetzung zwischen Markus Vogt und dem Transhumanisten Stefan Lorenz Sorgner. Sorgners essayistische Darstellung des Metahumanismus wird von Vogt kritisch ergänzt, indem er anthropologische und ethische Fragen aufwirft: Bedarf die Theologie einer transhumanistischen Wende? Muss man die Anthropozentrik überwinden? Die fließenden Grenzen zwischen Heilung, Verbesserung und Enhancement unterstreichen die Notwendigkeit einer reflexiven Auseinandersetzung.

Fazit: Dialog statt Dogma

Der Band regt zu grundlegenden Fragen an: Wie lassen sich Qualitätskriterien von technischen und moralischen Optimierungen beschreiben? Wie könnte moralische Verbesserung durch Technologie erreicht werden, ohne Freiheit zu opfern? Welche Auswirkungen hätten transhumanistische Maßnahmen auf das Verhältnis von Autonomie, Willensfreiheit und Würde?

Der Sammelband bietet Ansatzpunkte, um das christliche Menschenbild in fruchtbarer Spannung zum (Trans-)Humanismus zu halten, und fordert einen Dialog, der Orientierung in unsicheren Zeiten bietet. Insgesamt ist dies eine intellektuell anspruchsvolle Lektüre, die den Schnittpunkt von Theologie, Anthropologie, Ethik und Gesellschaft beleuchtet und damit eine Thematik aufgreift, deren Bedeutung – auch gerade in politischer Hinsicht – aktueller denn je ist.

Empfehlenswert für: Theolog*innen, Philosoph*innen, Sozialethiker*innen, Studierende und alle, die in der Diskussion um Anthropologie, Humanismus, christlichem Menschenbild und Zukunftsethik Orientierung suchen.

Buchempfehlung

Cover Mensch werden

Markus Vogt, Ivo Frankenreiter (Hg.)
Mensch werden
Christlicher Humanismus zwischen Philosophie und Theologie

Der Humanismus hat die Geschichte Europas sowie den moralischen Anspruch der Aufklärung geprägt. Die in ihm wirksam gewordene Synthese zwischen theologischen und philosophischen Zugängen ist heute jedoch höchst fragil. Im Post- und Transhumanismus wird sie radikal in Frage gestellt. Der anthropozentrische Humanismus wird in der Umweltethik nicht selten als Ursache der Naturvergessenheit angeklagt. Mündet der säkulare Humanismus, der die Dimension der Transzendenz verloren hat, in eine Egozentrik, in der sich der Mensch als alleiniges Maß aller Dinge wähnt? Ist der Humanismus in der heutigen Weltgesellschaft als ethischer Kompass akzeptanzfähig? Was heißt Mensch werden im Anspruch der unbedingten Würde? Vor dem Hintergrund dieser drängenden Fragen lotet der vorliegende Band die sozialethische Debatte um den Humanismus unter veränderten Bedingungen neu aus. 

2024, Schwabe Verlag
ISBN: 978-3-7965-5139-0
180 Seiten, deutsch

Foto: © Bevan Goldswain/iStock.com


Jonas Pavelka

ist promovierter Theologe und Referent für Spiritualität und christliches Profil in Schulen und in Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitswesen im ZIP und im Heinrich Pesch Haus in Ludwigshafen. In seinem Arbeiten treibt ihn die Sehnsucht um und an, dass es einen tieferen Sinn im Leben gibt, der uns Menschen „er-füllt“.

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