Warum wir die Chancen der Geschichtsschreibung nutzen sollten
Im März 2025 feierte man in Nürnberg das Jubiläum „500 Jahre Religionsgespräch“, ein Schlüsselereignis der Reformation. Für die Stadtgeschichte ein ganz wesentliches Ereignis, das damals weiter über die Grenzen Frankens hinaus Impulse setzte und sogar Vorbild für andere Reichsstädte war.
Es flogen die Fetzen und man stritt über Religion, aber neben den Fragen, wie man ein gottesfürchtiges Leben führt und sich den Zugang zum ewigen Leben sichert, ging es auch um ganz handfeste Interessen: Der Rat der Stadt und damit die agierenden Politiker wollten sich ihre Macht sichern, die damit verwobenen wirtschaftlichen Eliten ihr Vermögen und ihre Pfründe gegen aufständische Bauern und manche Sozialrevolutionäre verteidigen. Und die Kirche wie die Intellektuellen standen mittendrin, Altes und Neues gemäß dieser unterschiedlichen Interessen und divergierender Weltanschauungen zu rechtfertigen. Es ging übrigens auch um Ängste, beispielsweise vor den Auswirkungen einer ersten Globalisierung und vor den Muslimen, verbunden mit vielen Fake News über neue Medien namens Buchdruck.
Nun, die jetzige Feier wurde – wie bei vielen vergleichbaren Gedenkfeiern in ganz Deutschland – ein staatstragendes Ereignis. Die heutigen Vertreter der damaligen Gewinner, Kirche wie Stadtrat, erinnerten an das einschneidende Ereignis – und der Ministerpräsident von Bayern gratulierte am Ende seiner Rede.
Chancen der Geschichtsschreibung nutzen
Das war durchaus folgerichtig, denn so wird Geschichte als Legitimation herangezogen, wie man das gerne seit Leopold von Ranke, dem Wegbereiter dieser Wissenschaft, tut. Und noch zur klarstellenden Ergänzung: Natürlich kann und darf man das so gestalten und jedes Gespräch hat einen Eigenwert – im konkreten Fall brachte der städtische Empfang für das protestantische Jubiläum wieder einmal Menschen ins Gespräch und damit in den wertvollen Austausch!
Aber die Chancen der Geschichtsschreibung sind damit wenig genutzt worden. Sollten wir aus der Geschichte – gemäß des Leitspruches Historia Magistra Vitae (Die Geschichte ist der Lehrmeister des Lebens) – etwas für unsere Zeit lernen, dann muss auch die Geschichte der „Verlierer“ und der Alternativen in den Blick genommen werden, dann müssen auch die grundsätzlichen Fragen gestellt werden, nach dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft, nach den Gefährdungen des sozialen Friedens, von Freiheit und Gerechtigkeit.
Geschichte kann Lehrmeisterin sein
Und neben der vernachlässigten Ideengeschichte dürfte uns vor allem die historische Anthropologie interessieren: Wie sehr sind Menschen immer anfällig für Ängste, wie viel Aufklärung kann eine Regierung gewährleisten oder anders formuliert: Wie viel Populismus benötigt politische Macht und welche Rolle spielen Glaube und Kirche?
Ohne die richtigen Fragen an die Geschichte bleibt sie nur die Begründung des Gegenwärtigen.
Und natürlich ist vor zu schneller Parallelisierung ebenso abzuraten wie von der Hoffnung, dass uns das Wissen um historische Zusammenhänge vor etwas bewahrt. Harald Welzer hat sinngemäß nach den Anschlägen von Rostock-Lichtenhagen 1992 gesagt, man müsse erstmal gar nichts von der Geschichte gelernt haben, um zu wissen, dass man Häuser, in denen Menschen leben, nicht anzündet. Aber dieses Wissen – ob nun von 1933 oder 1525 – kann Erkenntnisse erschließen.
Die Auseinandersetzung mit vergangenen Zeiten bietet die große Chance, die alternativen Gedanken zur Gestaltung unserer Welt ebenso wie die zugrundeliegenden Muster unseres Handelns in den Blick zu nehmen und Perspektivenwechsel einzuüben. Dann kann uns Geschichte eine Lehrmeisterin sein, um uns in diesem fernen Spiegel heute besser zu verstehen. Wir sollten Sie nutzen!