Der Mann von Gerasa Sami Tobias Zimmermann

Versöhnung  

Wer sind eigentlich unsere Dämonen?

Tobias Zimmermann über die biblische Erzählung vom Besessenen von Gerasa

In der Bibel gibt es viele Heilungserzählungen. Eine davon berichtet, wie Jesus einen vermeintlich Besessenen heilt. Jesus treibt Dämonen aus – und befreit so den Menschen. Klar, das mutet uns heute sehr lebensfremd an. Und doch erzählt uns diese Geschichte mehr, als es zunächst scheint. Der Jesuit Tobias Zimmermann legt die Geschichte neu aus.

Ich mag das Evangelium, das landläufig mit „Der Besessene von Gerasa“ (Mk 5,1-20) überschrieben wird. Es fordert mich heraus. Dies vorweg: Es geht bei Markus nicht um pseudo-christlichen Aberglauben, um „Besessene“ und „Exorzisten“. Dieser Unfug gehört ins Gruselkino. Markus spricht in einer antiken Vorstellungswelt von Phänomenen und Verhaltensmuster, die uns viel näher sind, als uns vielleicht lieb ist.

Worum geht es also?

Jesus pendelt als frommer Jude aus dem jüdischen Herzland über den See Genezareth in das sogenannte „Land der zehn Städte“, um seinen innerjüdischen Feinden zu entgehen. Die „Dekapolis“ war tief von einer Geschichte aus Krieg, Terror und Ressentiments gezeichnet. Die Städte waren aufgrund von Gewalttaten hasmonäischer Herrscher in der Makkabäerzeit, also seit dem ersten Jahrhundert vor Christus, hellenistisch, römisch, vor allem aber antijüdisch geprägt.

Kein Wunder, dass Markus die Dämonen, nachdem sie den Mann verlassen haben, in Schweine fahren lässt. Schweinefleisch ernährt die hellenistische Welt, steht aber geradezu emblematisch für alles, was ein frommer Jude meiden soll, wenn er der Überlieferung treu sein will.

Hass, Gewalt und Krieg werfen lange Schatten auf die Kultur unserer Gesellschaften. Sie prägen unsere liebgewonnene Art zu leben, Beziehungen zu pflegen, die Verteilung des Besitzes, unsere kulturellen Güter, Wertvorstellungen, sowie die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen, die wir ziehen, um festzulegen, wer dazu gehört und wer nicht.

Der Mann aus Gerasa gehört zu den Menschen, deren Schicksal es ist, dieses Erbe am eigenen Leib zu spüren und auszuleben. Es zerreißt ihn und treibt ihn aus der Gemeinschaft.

Wir Menschen wollen unsere Ruhe haben. Deshalb verbannen ihn die lieben Mitmenschen in die Grablegen vor der Stadt. Soll er doch allein mit den Geistern der Vergangenheit leben. Ihr Wunsch nach Ruhe schlägt in Gewalt um. Sie legen ihn an die Kette. Vergeblich!

Tobias Zimmermann Bessene

Tobias Zimmermann SJ: Der Besessene von Gerasa (70 x 100 cm)

Gequälte Seelen – auch unter uns

Es gibt sie auch unter uns, diese gequälten Seelen. Ich denke z. B. an M. Er war Schüler in meiner ersten Willkommensklasse, in der ich geflüchtete Jugendliche unterrichtete. Nichts konnte ihn auf dem Platz halten. Ständig turnte er durch den Raum, neckte und nervte aggressiv seine Mitschüler*innen. Er war ca. 15 Jahre alt und machte alle aggressiv. Zwei Jahre zuvor hatten die Eltern ihn, nachdem sie alles durch Bomben verloren hatten, in Damaskus auf die Straße gestellt und auf die Wanderschaft nach Berlin geschickt, zu einem völlig überforderten, selbst erst achtzehnjährigen „Onkel“.

Die Eltern selbst konnten wegen der pflegebedürftigen Großeltern nicht weg. Was mochte er, mutterseelenallein auf dem Weg, erlebt haben? Wenn ich ihn sanft, aber bestimmt an den Schultern zu seinem Platz zurückbrachte, dann spürte ich, unter welchen Spannungen der Körper des Jungen geradezu zitterte. Dauerstrom! Heimweh, die Bilder, Bomben aus der Heimat, die Nachricht vom Tod seines Schulfreundes … alles musste er allein verarbeiten. Alles schlug sich in körperlichen Spannungen nieder, die er selbst nicht bändigen konnte. Wie mit diesen Spannungen leben?

Haben wir die Geduld, Menschen wie M. sanft zu begleiten, bis sie lernen, mit dem Erbe umzugehen, das sie im Körper tragen? Oder bedroht uns ihr Dasein, weil es uns fragt, welchen Anteil wir an ihrem Schicksal haben?

Resignieren wir gerade?

Die Geschichte vom Besessenen fragt mich auch, ob wir in Europa gerade dabei sind, zu resignieren angesichts längst totgeglaubter Geister der Geschichte, die sich immer weiter ihren Weg bahnen, zurück in die Mitte der Gesellschaft: Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments gegen Andersdenkende, Brutalisierung der Sprache … Was tun wir dagegen? Und was hat dieser Vormarsch mit den heiligen Kühen zu tun, die wir einfach nicht hinterfragen wollen, weil sie uns lieb geworden sind?

Ist es, um ein Beispiel zu nennen, wirklich so unschuldig, wenn Jahr für Jahr das „Who is who“ der Gesellschaft sich selbst auf „dem Hügel“ in Bayreuth in exakt dem Festspielhaus als kulturelle Elite inszeniert, das schon den Nazi-Eliten die große gesellschaftliche Bühne geboten hat? Bedeutet es nichts, dabei den größten Antisemiten seiner Zeit, dem es gelungen ist, seine jüdischen Kollegen erfolgreich aus dem öffentlichen Musikleben in Deutschland zu verdrängen, bis heute, immer weiter als kulturelle Ikone aufzupolieren? Ich persönlich frage mich schon: Wie kann einen nicht ekeln, Teil dieser andauernden Inszenierung zu sein?

Aber ja, auch dies: Wo sind meine eigenen heiligen Kühe, die ich nicht sehen mag? Zeitgleich nehmen wir jedenfalls stillschweigend hin, dass unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ihre Feste, z. B. das Laubhüttenfest, nicht richtig feiern können, also nicht mit uns, ihren Nachbarn, auf den Straßen und öffentlichen Plätzen, sondern nur abgeschottet und schwer bewacht in Hinterhöfen. Gibt es keinen Zusammenhang oder wollen wir ihn nur einfach nicht sehen? Schmerzt es uns?

Die Geschichte vom Besessenen fordert mich auf, nicht zu resignieren, sondern hinzuschauen, auch mit Spott und Humor.

Es wird den Juden unter den Christen, für die Markus schreibt, jedenfalls ein Lachen wert gewesen sein, wenn ausgerechnet „Legion“ Jesus demütig um Erlaubnis fragt, in die Schweine fahren zu dürfen, um zu ertrinken! Denn der Eber war das Wappen der zehnten Legion, die unter dem römischen Kaiser Vespasian mit der Zerstörung Jerusalems und der Plünderung des Tempels das Zerstörungswerk an der jüdischen Kultur vollenden sollte. Gott ist mächtiger als all die Typen, die von ihrer Bedeutung in der Geschichte so überzeugt sind. Heilen aber kann nur, wer bereit ist, die Wunden wahrzunehmen, sich der eigenen Ohnmacht auszusetzen und Heilung aus tiefstem Herzen zu ersehnen. Das kann der Besessene. Das ist seine Stärke. Und deswegen kann er geheilt nach Hause gehen.


Tobias Zimmermann SJ

ist Priester, Pädagoge und Jesuit. Als Autor und als Mitbegründer des Zentrums für Ignatianische Pädagogik (ZIP), das er seit Oktober 2019 leitet, arbeitet Tobias Zimmermann an Projekten der Entwicklung der katholischen Schulbildung und Spiritualität, in der Schulentwicklung, im Coaching für Leitungskräfte und in der Fortbildung von Schulleitungen und Pädagogen. Seit Oktober 2019 ist er Direktor des Heinrich Pesch Hauses und wirkt mit an der Weiterentwicklung der Akademie im Bereich Online-Bildung, neue Schwerpunktthemen sowie an der Entwicklung der Heinrich Pesch Siedlung, einem Modellprojekt für soziale und ökologische Stadtentwicklung.

Foto: Stefan Weigand

Weiterlesen

24.09.2024 Zusammenleben

Hilfe für Asylsuchende gerät unter Beschuss

Die Debatte um Migration und Flucht stellt staatliche Hilfen für Asylsuchende zunehmend in Frage. Schutzsuchende, die sich im „falschen“ Staat aufhalten, sollen überhaupt keine Leistungen mehr erhalten, andere Asylsuchende statt Bargeld eine „Bezahlkarte“. Die Einzelfallgerechtigkeit droht dabei auf der Strecke zu bleiben.

weiter
17.09.2024 Versöhnung
Krankensalbung

Erdung und Heilung

Ein Sakrament, das Menschen Ruhe und Gelassenheit schenkt – und Gottes Gegenwart und Mitgefühl greifbar machen – der Jesuit Fabian Loudwin schreibt über die spirituelle Kraft der Krankensalbung und gibt Einblicke in seine Erfahrung als Klinikseelsorger.

weiter
12.09.2024 Sinn
Annie Dillard

Vergessen und Erinnern

Welchen Stellenwert haben Erinnern und Vergessen heute – vor allem im Blick darauf, dass wir fast alle wichtigen Ereignisse fotografisch festhalten. Was passiert hier? Und welche Beobachtungen aus der Natur helfen uns dabei zu einem guten Umgang mit der Vergänglichkeit. Matthias Rugel versucht eine Deutung mit der Schriftstellerin Annie Dillard.

weiter