Sinn  

»Wir müssen den Finger in die Wunde legen!«

Coolout – Pflegekräfte im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit

„Pflegekräfte müssen lernen, in Widersprüchen zu denken“, sagt Karin Kersting. Die Professorin für Pflegewissenschaft lehrt an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein im Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen. Mit ihren Coolout-Studien hat sie das Spannungsfeld im Pflegealltag und die Reaktion Pflegender auf den Widerspruch zwischen dem, was sein soll, und dem, was ist, untersucht. Ein Gespräch über die Situation in der Pflege und mögliche Auswege.

Burnout ist ja in aller Munde – was ist Coolout eigentlich?

Coolout – Burnout, das klingt wie ein Sprachspiel. Anders als Burnout macht Coolout aber nicht krank. Es ist ein Schutzmechanismus. Der Begriff bedeutet: Ich mache mich kalt und bezieht sich in meinen Studien auf Pflegekräfte. Denn in der Pflege gibt es einen zentralen, unauflösbaren Widerspruch, mit dem sich Pflegekräfte arrangieren: Einerseits müssen sie patientenorientiert arbeiten, sich den Menschen zuwenden. Das ist gesetzlich verankert, das steht in Einrichtungsleitbildern, das lernen sie in der Ausbildung und das wollen sie machen. Andererseits müssen sie aufgrund ökonomischer Zwänge schnell arbeiten. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Pflegende jeden Tag. Coolout ist die Reaktion der Pflegekräfte auf dieses Spannungsfeld. Sie können es dauerhaft aushalten, weil sie lernen, sich kalt zu machen.

Mit kalt assoziiere ich in der Pflege abweisend und wenig empathisch …

Nein, die Pflegenden werden nicht kalt im Sinne einer Gleichgültig oder Abstumpfung gegenüber den Patienten, definitiv nicht. Coolout heißt, sie erwerben eine Tendenz der Gleichgültigkeit gegenüber dem Widerspruch, mit dem sie umgehen müssen. Dahinter verbirgt sich ein gesellschaftliches Phänomen – Adorno und Horkheimer haben es als bürgerliche Kälte bezeichnet. Kinder lernen zum Beispiel, solidarisch mit Schwachen zu sein, gleichzeitig aber ist die Gesellschaft so aufgebaut, dass sich jeder selbst der nächste ist. Interessant ist: Obwohl der Alltag es den Menschen versagt, solche Normen tatsächlich zu verwirklichen, halten sie daran fest. Im Falle der Pflege heißt das, an dem Anspruch einer bedürfnisorientierten Pflege festzuhalten.

Eigentlich sollte man meinen, dass solche Arbeitsverhältnisse, wie Sie sie beschreiben, eher in den Burnout führen.

Es brennen ja nicht alle aus. Pflegende deuten das Spannungsfeld im Alltag so, dass sie sich damit schützen können. Aber weil sie sich schützen, stabilisieren sie zugleich das System.

Coolout Burnout

Gibt es typische Muster, wie Pflegekräfte auf die Probleme am Arbeitsplatz, auf diesen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, reagieren?

Pflegekräfte reagieren unterschiedlich. Ich habe das in einer „Kälteellipse“ grafisch dargestellt. Es gibt insgesamt im Bereich der Pflege 14 verschiedene Reaktionsmuster. Manche Pflegende erkennen überhaupt nicht, dass es einen Widerspruch gibt und glauben, dass das, was gefordert wird, auch gemacht wird. Sie wollen sich um die Patienten kümmern und glauben, dass es gelingt.

Dann gibt es eine Gruppe Pflegender, die den Widerspruch erkennen. Sie wollen sich den Patienten zuwenden, erleben aber, dass das verhindert wird, dass sie sogar kritisiert werden, wenn sie zu viel Zeit bei den Patienten verbringen. Sie leiden darunter und sehen sich selbst als Opfer der Strukturen, als machtlos. Aber sie trösten sich mit dem Gedanken:  Wenn man mich lassen würde, dann würde ich es machen. Es liegt nicht mir.

Beide Reaktionsmuster verdeutlichen nochmal, dass es bei Coolout nicht um Gleichgültigkeit gegenüber den Patienten geht.

Eine weitere Gruppe erkennt, dass sie Patientenorientierung nicht im Alltag verwirklichen. Sie entwickeln verschiedene Strategien in der Praxis, um die Situation zu verbessern: Ich muss empathisch sein, dann kann ich die richtigen Prioritäten setzen, die richtigen Kompromisse eingehen. Sie suchen sich Nischen in denen sie zumindest hin und wieder, in bestimmten Situationen oder bei Schwerstkranken, so pflegen, wie es für den Patienten, aber auch für sie hilfreich und richtig ist. Sie machen das, um die Norm zu verwirklichen. Patientenorientierung gelingt damit aber nicht grundsätzlich, sondern nur zufällig, hin und wieder. Sie stabilisieren damit unmerklich das System, denn die Bedingungen werden nicht verändert.

Wiederum andere Pflegekräfte erkennen das Dilemma unter den herrschenden Bedingungen komplett und sagen: Der Widerspruch ist unauflösbar. Was verlangt wird, können wir faktisch nicht umsetzen. Sie haben erkannt, dass das System das falsche ist. Und eine ihrer Schlussfolgerungen ist, bewusst je situativ das Beste für die Patienten zu machen, aber im Wissen, dass das System geändert werden muss.

Problem erkannt also – aber damit noch nicht gelöst. Was kann man machen, um das Spannungsfeld aufzulösen bzw. die Situation in der Pflege zu verbessern?

Zunächst muss man sagen, es ist ein Skandal, von Pflegenden etwas zu fordern, was systematisch verhindert und was sie faktisch nicht einlösen können. Das erleben und spüren alle, aber es bleibt oftmals eher als dumpfes Gefühl oder wird als individuelles Versagen wahrgenommen.

Es ist von größter Bedeutung, dass Pflegekräfte über den unauflösbaren Widerspruch und diese Mechanismen aufgeklärt werden, in denen sie verstrickt sind.

Mein Anliegen ist es, die Leute zu befähigen, diesen Widerspruch zu erkennen, sich nicht für dumm verkaufen zu lassen. Das wird nicht hinreichend offen kommuniziert, auch in der Ausbildung noch nicht, aber es ist nun seit 2019 als Bildungsziel formuliert. Ich setze mich seit vielen Jahren in Pflegestudiengängen und Fortbildungen genau dafür ein, dass die Leute sich damit auseinandersetzen. Die Pflegekräfte sollen lernen, in Widersprüchen zu denken. Das ist ein sehr hoher Anspruch: Im Wissen um den unauflösbaren Widerspruch bewusst an der Norm im Alltag festzuhalten und das Beste immer wieder auf neue zu versuchen. Aber auch einen kritischen Blick entwickeln und für Veränderungen eintreten.

Was kann „die Politik“ tun, um die Situation zu verbessern?

Zu fragen ist, was können wir als Pflegende tun, damit „die Politik“ etwas tut? Wir müssen den Finger in die Wunde legen, die Zumutungen thematisieren, uns besser organisieren und grundlegende Änderungen laut einfordern. Sonst warten wir auf die Brosamen der Politik und damit dürfen wir uns nicht bescheiden.

Das Interview führte Dr. Anette Konrad.


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