Frank Berzbach über eine Handelskultur, die sich das Menschliche bewahrt hat
Schallplatten, Briefmarkensammlungen, Füllfederhalter, Bücher, Kleidung, Krimskrams: Flohmärkte sind Orte nicht nur für Zeitreisen, sondern auch für unverhofftes Glück. Frank Berzbach liebt diese Märkte – und flaniert im Essay von Stand zu Stand.
Floh- und Antikmärkte: Sie sind eine museale Sache ganz ohne Eintrittsgeld, ein Wochenendvergnügen und gekennzeichnet von grenzenloser Schaulust. Hier wird flaniert und gehandelt und nach Perlen getaucht. Ich liebe Märkte. Die Stände folgen keiner Konzernlogik und sind auch kein virales Marketing, das Dargebotene generiert seinen Preis selbst, neben Nippes finden sich Schätze, neben Schund echte Raritäten.
Mir geht es meist um Schallplatten und Bücher, um altes Büromaterial und Kristallgläser und: ums unspezifische Schauen. Wir begegnen den Geschichten, dem Trost in den Dingen, dem Museum der Unschuld – der Blick auf eine gebrauchte (gefälschte?) Handtasche einer französischen Marke verweist auf Ereignisse, von denen wir nichts wissen. Wer hat sie gekauft, verschenkt, wer damit gelebt im Glauben, sie sei wertvoll, wer hat sie entlarvt?
Bei einigen alten Utensilien weiß ich nicht einmal, wofür sie gut waren, aber das lässt sich erfragen. Neulich kaufte ich für nur einen Euro einen einfachen Parker-Füllhalter. Den Vortrag darüber, dass heute »niemand mehr so schreibt, nicht mal die Kinder«, ließ ich gern über mich ergehen. Nichts lag der Verkäuferin ferner als Schreiben, so ergab sich der für mich günstige Preis.
![iStock-2152028279_[Andrey Danilovich] Flohmarkt Schallplatten](https://sinnundgesellschaft.de/wp-content/uploads/2025/08/istock-2152028279-andrey-danilovich.jpg)
Ich sammle alte Holzbleistifte, oft bekomme ich sie gleich geschenkt. Es geht hier weniger um Marktwert, es geht um persönliche Bedeutung – das lässt die Ware zwischen Überteuerung und Spottpreis oszillieren. Zu Hause habe ich ihn ausgiebig gereinigt und meine Sammlung um einen robusten, zuverlässigen, edelstählernen Gebrauchsfüller erweitert; ein solider Arbeiter und er passt zu dem alten Edelstahl-Kugelschreiber, den ich im Sakko am kleinen Notizbuch habe. Ein Euro.
Porzellan und Tand
Am Stand nebenan gab es gefälschte Füllhalter von Waterman. Ein großtönender Mann redete gekonnt auf seine Opfer ein, sodass sie für »nur 10 Euro« etwas kauften, das keine fünfzig Cent wert ist. Für einen Euro kaufte ich kurze Zeit später drei Reclam-Hefte: eine Anthologie französischer Philosophie, einen Band über die Theorien der Fotografie und Reden von Hans Blumenberg. Zu allen sagte mir der Verkäufer seinen persönlichen Leseeindruck, dann bot er mir noch einen englischsprachigen Murakami-Band »von so einem Japaner« mit Erzählungen an, von denen er begeistert war. Aber er verkauft sie eben doch, meine Sammlerseele kann es nicht verstehen.
Früher waren die Gläser kleiner und aus feinerem Glas. Man kann sie sich an einem akkurat gedeckten Tisch mit feinem Porzellan gut vorstellen – wie in Schwarz-Weiß-Filmen. In den heutigen TV-Serien gibt es oft die Szenen am Abend, die eine telefonierende Kommissarin oder einen sinnierenden Kommissar mit einem Weinglas in der Hand zeigen, das hoch ist wie ein Weißbierhumpen. Auf dem Flohmarkt aber die »Römer«, farbig und aus dickem Kristallglas – stößt man damit an, ist es wie ein Fanal, das Geräusch erinnert an eine Klangschale. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Rom aus solchen Gläsern getrunken wird, wahrscheinlich purer Exotismus gegenüber dem Volk, das den Wein zu den Germanen brachte.
Ich bewundere die alten Werbeschilder – Martini, Pelikan-Tinte, Gitanes – und verachte die billigen digitalen Reprints; ich mag die Briefmarkensammlungen und die Münzen, die alten Postkarten und die Vintagekleidung, ich mag die Gespräche mit den semiprofessionellen Kennern von Porzellan und Tand, von Kruzifixen und Rosenkränzen, die alten Bücher und Aschenbecher.
Handelskultur
Das Nebeneinander von Bauernfängern und Kennern, von Händlern, denen es ernst ist, und anderen, die nur Geld machen wollen, von Privatleuten, die sich von den Bilderbüchern ihrer nun erwachsenen Kinder trennen, von CDs, die sie noch nie gehört haben, oder Schallplatten der Großeltern. Restauratoren alter Möbel stehen neben Kennern von Silberbesteck, der kleine Stand mit den Dingen aus den 1950ern hat auch Schallplatten von Elvis und Sinatra. Das ist ungeordnet und nicht kalkuliert, die umherstreifenden Leute sind motivvielfältig.
Es ist eine Handelskultur, die das Menschliche nicht verloren hat. Auch hier wird verkauft und gekauft, auch hier wird konsumiert – aber anders.
Hier zählt nicht, was man braucht, nicht nur das Prestige, hier zählt die Schönheit, das Unpraktische, aber innig Geliebte. Jeder ist willkommen, es gibt keine Türsteher und kein Distinktionsgehabe, es gibt keine Schwellenängste, man kann einfach ins Gespräch kommen und wieder gehen. Jeder gute Flohmarkt ist eine paradiesische Insel; wieder nach Hause geht man mit dem Gefühl, seine Schätze gefunden zu haben, weil man nichts gesucht hat.
Buchempfehlung

Die Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch »Das Alphabet der Lebenskunst. Was dem Alltag Tiefe verleiht«.
Seit der Antike beschäftigt uns die Ars vivendi – »die Kunst zu leben«. Was macht sie aus, die Kunst des Lebens? Dazu will Frank Berzbach Anregungen geben: in 69 Miniaturen von A wie Achtsamkeitsübung über F wie Freundschaft bis W wie Wetter; mal sachlicher oder poetischer, ästhetischer oder kulturkritischer – je nach Stichwort.
Allen Texten gemeinsam ist: Sie sollen dem Alltag mehr Tiefe geben. Damit verbindet sich auch die Hoffnung, dass nachvollziehbar wird, was das Unsagbare ausmacht; es geht im Leben um mehr als um pure Vernunft.
Frank Berzbach: »Das Alphabet der Lebenskunst. Was dem Alltag Tiefe verleiht«
448 Seiten, bene!-Verlag, ISBN 978-3-96340-287-6
Zur Lektüre:
Wolfgang Schivelbusch: Das verzehrende Leben der Dinge: Versuch über die Konsumtion. Fischer, Frankfurt/Main, 2016
Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge: Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis
heute. DVA, Stuttgart, 2017






