Versöhnung  

Wie den Glauben an den Menschen nicht verlieren, wenn alles zu Asche wird?

Gedanken von Tobias Zimmermann SJ zum Beginn der Fastenzeit

Als Christinnen und Christen haben wir das Privileg, dass die Frage nach dem Menschen, nach Sinn und Ziel in unserem Leben keine getrennte Frage ist von der nach Gott. Wir müssen die irritierende, archaische Vorstellung nicht aufrechterhalten, dass es einen profanen, quasi erdbelasteten Alltag des Menschen gibt. Und jenseits davon einen sakralen Bereich, der Gott und Gottes – leider bis heute – Gottes Männern vorbehalten ist. Im Gegenteil: Dieses Modell der Begegnung von Gott und Mensch wird durch die ganze heilige Schrift hindurch kritisiert. Sie hat dem systematischen und systemischen Machtmissbrauch der sogenannten heiligen Männer Vorschub geleistet. Und nicht umsonst hat Jesus ihr sein Testament entgegengestellt, ein alltägliches Mahl als Ort der Begegnung mit Gott.

Der ehemalige Bischof Kamphaus hat die Herausforderung so formuliert: Mach’s wie Gott, werde Mensch! Vor dieser Herausforderung stehen wir Christinnen und Christen Seite an Seite mit allen Menschen guten Willens, egal welcher Weltanschauung.

Durch die ganze jüdische Geschichte hindurch und dann im Projekt des Mannes aus Nazareth hat Gott sich an unserer Seite, an der Seite unzähliger Frauen und Männer – beginnend mit Adam und Eva, über Sarai und Abram – dieser Aufgabe gestellt, Mensch zu werden. Und in Jesus, so glauben wir, hat Gott sich diese Aufgabe dann ganz zu eigen gemacht. Gott ist Mensch geworden.

Die Bibel, das große Buch der Aufklärung, zeichnet das Bild von einem einzigen göttlich-menschlichen Bildungsprojekt mit Sternstunden des Fortschritts und Abgründen des Scheiterns. Deswegen überlebt das Judentum das Exil in der Synagoge, also in der Schule, und nicht im Tempel. Und Jesus ist eben kein Guru, sondern ein Rabbi, ein Lehrender.

Was bringt uns im Leben Erfüllung?

Und von der Menschwerdung dürfen wir als Pädagoginnen und Pädagogen nicht zu klein denken. Anthony de Mello erzählt die Geschichte von dem jungen Adler, dem die Spatzen, denen seine Erziehung anvertraut ist, ständig die Federn stutzen, damit er endlich ein guter Spatz wird.

Safeguarding-Konferenz

Vom 1. bis 4. März 2022 findet im Ludwigshafener Heinrich Pesch Haus eine Konferenz des europäischen Netzwerks der Jesuiten-Schulen statt. Die über 150 Teilnehmenden befassen sich mit dem Schutz von Minderjährigen in Jesuiten-Schulen. Im Fokus stehen die Prävention und Reaktion auf sexualisierte Gewalt. Dieser Text war die Predigt von Tobias Zimmermann im gemeinsamen Gottesdienst mit den Konferenz-Teilnehmenden an Aschermittwoch.

Wir wollen junge Menschen erziehen, die mit Gott gemeinsam groß vom Menschen denken. Denn anders als Steine und Sternenstaub dürfen wir uns fragen, was uns im Leben Erfüllung bringt. Ich habe es immer als ein wunderbares Geschenk der Väter der amerikanischen Verfassung betrachtet, dass sie das Recht des Menschen, nach Glück und Erfüllung zu streben, als ein Grundrecht erkannt und formuliert haben. Es ist ein Recht eines jeden von uns, auf je eigene Weise unser Glück und unsere Erfüllung zu suchen.

Tief im Herzen aber wissen wir als soziale Wesen, dass sich die Frage nach unserer persönlichen Erfüllung nicht trennen lässt von der Frage, was sich durch uns erfüllt, in der Geschichte und in unserem konkreten sozialen und politischen Umfeld. Dies aber bedeutet ganz konkret die Frage an mich, an Euch, an jeden Menschen: Wer sind die Menschen, von denen Du tief im Herzen weißt, dass sie Dir anvertraut sind. Und Jesu Appell an uns ist, dabei nicht zu klein von der Kraft unserer Herzen zu denken. Wir können im Extremfall sogar Feinde als Menschen betrachten, die uns anvertraut sind.

Dies ist also das Projekt des christlichen Humanismus: Mach’s wie Gott, werde Mensch! Pädagogin und Pädagoge zu sein bedeutet nichts anderes, als die heilige Aufgabe, für junge Menschen eine Hebammen-Funktion in diesem besonderen Projekt bekommen zu haben. Sie sollen mit unserer Hilfe nicht nur die Chance erhalten, all die ihnen gegebenen Talente zu entfalten. Sie sollen nicht nur denken lernen. Sie sollen in der Schule die Chance erhalten, diese ihre Würde als Menschen zu erfahren. Sie sollen das „Ein mal Eins“ lernen, sich Ziele zu setzen und ihr Leben daraufhin zu ordnen, was sie als Ziel ihres Lebens erkannt haben. Sie sollen lernen, sich diesen Fragen zu stellen: Was gibt meinem Leben Erfüllung? Aber auch: Was erfüllt sich in dieser Welt nur durch meine Talente, meine Kraft, mein Engagement?

Asche auf unser Haupt

Mancher Humanismus hört hier auf. Wir aber bekommen heute als Christinnen und Christen Asche auf unser Haupt. Es ist ein Ritus der Ohnmacht: Mensch Du kommst vom Staub und kehrst zu Staub zurück.

Wir vollziehen im Ritus das, was wir erleben. Ein Scheitern auf der ganzen Linie.

Da ist der Krieg in der Ukraine. Es ist uns in Europa nicht gelungen, eine Friedensordnung zu finden, die für alle Mensch Sicherheit und Selbstbestimmung bedeutet. Eine Nachbarschaft, in der kulturelle Verschiedenheit nicht als Bedrohung erlebt wird. Eine Ordnung, die Gewalttäter stoppt, bevor die Waffen sprechen. Und so müssen wir in aller Ohnmacht zusammenrücken; mit brüchigen Gesten Solidarität zeigen mit jenen, die in der Ukraine aufrecht ihre Freiheit verteidigen, Solidarität mit jenen, die Opfer der Gewalt des Krieges sind oder vor ihm fliehen; Solidarität aber auch mit all jenen, die sich in Russland gegen den Krieg stemmen und dabei Gefängnis und Verfolgung riskieren. Und wir müssen jenseits humaner, aber auch hilfloser Gesten einfach Ohnmacht aushalten – Asche auf unser Haupt: Mensch Du kommst vom Staub und wirst zu Staub zurückkehren.

Nachdenken über den Schutz von Kindern

Und wir kommen als Menschen in der Kirche auf eine Konferenz, auf der wir über den Schutz der uns anvertrauten Kinder nachdenken, Gott sei Dank. Aber das können wir nicht anders als auch daran zu denken, was in der Vergangenheit in unseren Schulen geschehen ist. Gewalttaten, die Leben zerstört oder verwundet haben. Schlimmer: Die Etablierung einer Kultur in Kirche, Jesuitenorden und ihren Einrichtungen, die dem systematischen Machtmissbrauch und eine Kultur des Wegsehens nicht nur begünstigt, sondern auch ideologisch überhöht hat.

Von Einzeltätern zu sprechen, war und ist Teil einer Un-Kultur. Sie hat den Sinn von Bildung und Kultur ins Gegenteil verkehrt. Denn diese dienen doch gerade dazu, Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit dauerhaft zu Haltung und Struktur zu machen. Und bei allem Bemühen um einen kulturellen Wandel, das sich auch in dieser Konferenz zeigt. Wir müssen gerade ohnmächtig zusehen, wie massenhaft Menschen unserer Gemeinschaft den Rücken kehren, weil sie die Hoffnung auf das Projekt Jesu mindestens in dieser konkreten Organisation verloren haben. – Asche auf unser Haupt: Mensch Du kommst vom Staub und wirst zu Staub zurückkehren.

Staunen, was im Menschen steckt

Ja, es ist wahr und wir erleben es auch in unserem pädagogischen Alltag: Menschwerdung bedeutet dies – Staunen, was im Menschen steckt. Manchmal verliert vor unseren Augen ein Adler seinen Flaum und darf seine Schwingen spreizen, darf Fliegen lernen. Ein Moment des Staunens, was der Mensch sein kann. Nur ein Wimpernschlag! Aber einer, wo der Kosmos sich seiner selbst bewusst wird. Momente, wo sich Kraft zu Freiheit, schöpferischer Kraft und Mut zu menschlicher Wärme zeigen. Momente, wo sich „Sinn“ unter dem unendlichen Blau des Himmels formt. Hier Dankbarkeit zu leben, nährt unsere Freude am Leben.

Aschermittwoch Hoffnung

Aber wir können, wir dürfen die andere Seite nicht ausblenden. Deswegen bekommen wir – mitten in einer Kultur der Selbstoptimierung, die sogar unsere Fastenzeit tief infiziert hat – Asche auf unser Haupt! Jahr für Jahr setzen wir uns einen Moment lang der Ohnmacht aus. Es ist das Gegenteil des Aufrufs zur Selbstoptimierung. Es ist die Erinnerung daran, dass die Fähigkeit zu Gewalt, Schuld, Schmerz, Tod und unser ohnmächtiges Leiden daran auch zur Natur des Menschen gehören.

Wie den Glauben an die Menschheit nicht verlieren

So konfrontiert uns der Aschermittwoch mit einer zweiten, existenziellen Herausforderung: Wie angesichts der nicht zu leugnenden Unmenschlichkeit den Glauben an die Menschheit nicht verlieren? Wer diese Frage dauerhaft auszublenden versucht, gleitet ab in einen Abgrund, in dem die Erfüllung des eigenen kleinen Lebens nur noch durch Ignoranz gegenüber dem Leid der Menschen rund um mich herum erreicht werden kann.

Mensch wie lebst Du also mit Deiner Ohnmacht? Steckst Du den Kopf in den Sand und machst weiter mit blindem Vertrauen in die menschliche Selbstoptimierung? Oder bunkerst Du Dich ein gegen den Schmerz in einem zynischen Pseudorealismus, der in Wahrheit nichts anderes ist als die emotionale Selbstimmunisierung gegen den Schmerz der Ohnmacht.

Mensch hast Du den Mut, auch weiterhin darauf zu vertrauen, dass es Sinn macht, Mensch zu sein und menschlich zu leben, auch wenn gerade menschliches Zusammenleben und Mitmenschlichkeit durch Gewalt und Unrecht pulverisiert werden? Das sind keine akademischen Fragen! Und nur, wenn wir selbst den Mut haben, diese Fragen an uns heran zu lassen, dürfen wir junge Menschen ermutigen, sich auf das humanistische Projekt einzulassen. Wo aber, wenn nicht in Schule und Familie, sollen junge Menschen am Vorbild Erwachsener lernen, sich diesen Abgründen nüchtern zu stellen, ohne die Zuversicht zu verlieren? Lernen junge Menschen also an unseren Schulen und durch uns Zuversicht ohne Verleugnung? Lernen sie den Mut zu Vertrauen und zum nüchternen Umgang mit menschlichen Grenzen?

Fitnessprogramm für die Seele

Jenseits der netten kleinen Projekte der Selbstoptimierung, keine Süßigkeiten, kein Alkohol, mehr Schlaf, weniger Arbeit … könnte die Fastenzeit eine Zeit sein, wo wir uns auf das besinnen, was uns Vertrauen ins Leben schenkt. Wenn dies aber keine akademische Frage ist, wie können wir sie dann stellen? Ich glaube, wie so oft liegt die Antwort in der Balance und Spannung zwischen zwei unerlässlichen Polen. Sie scheinen zum Beispiel auf im Zeugnis eines P. Alfred Delps wenige Stunden, bevor die Nazi-Justiz ihn ermordete. Da sind einerseits Staunen und Freude über eine Welt, die Gottes so voll ist. Sie entdeckt nur, wer das, was ihm begegnet, wirklich durch verkostet bis zu dem Punkt, wo die Selbstverständlichkeit endet und das Staunen beginnt. Dauerhafte Nahrung aber findet diese Freude nur im entschiedenen und tatkräftigen Engagement für mehr Menschlichkeit. Dies spiegelt sich in dem Satz von Alfred Delp: Wir sterben, damit andere einmal besser leben.

Liebe Schwestern und Brüder, wieder mehr ins Staunen zu kommen, um sich dann noch entschiedener, noch tatkräftiger solidarisch und auch politisch einzusetzen für mehr Menschlichkeit in Gesellschaft und Kirche, auch oder gerade dann, wenn alle Hoffnung zu enden scheint, das wäre doch mal ein Fitnessprogramm für die Seele in der Fastenzeit jenseits all der individualistischen Fastenprogramm der Selbstoptimierung.

Fotos: © Kara Gebhardt/shutterstock.com, © ipopba/istock.com


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