Wie Michel Foucault einen Zugang zu diesem Jahr geben könnte
Die Corona-Situation schuf völlig neue Gegebenheiten und die Veränderungen dauern immer noch an. Dabei geht es nicht nur um Maskentragen oder Abstandsregel, um Reiseeinschränkungen oder um Volksfeste und Weihnachtsmärkte, die nicht stattfinden können. Die Krise lehrt uns vielmehr, dass es neue Weisen gibt, dieses Leben hier zu bestreiten.
Drei Wochen länger hält die Welt in diesem Jahr. Über diese Meldung bin ich im Sommer gestolpert. Durch die Maßnahmen rund um die Pandemie verschiebt sich der Erdüberlastungstag (Earth Overshoot Day) vom 29. Juli im Jahr 2019 auf den 22. August 2020 – der beste Wert seit 2012 vermeldet die Organisation Global Footprint Network gemeinsam mit der York University. Ab diesem Tag leben wir auf Pump: Die Menschen verbrauchen mehr Ressourcen, als die Erde im selben Jahr auffrischen kann. Ein paar Tage vorher hieß es in verschiedenen Nachrichtenportalen, Deutschland könne seine Klimaschutzziele für 2020 doch noch erreichen.
Was sich hier zeigt: Die Krise ist einschneidender als Maskenpflicht und Abstandsregeln. Sie zeigt in Bezug auf die Bewahrung der Schöpfung und den Klimaschutz deutlich, was alles möglich ist, aber auch, welche Kosten damit verbunden sind. Die Utopie einer klimafreundlicheren Erde wird greif- und spürbarer.
Die Verschiebung der Welt
Mit dem französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault (1926–1984) kann die Corona-Pandemie als Heterotopie (Anders-Ort) verstanden werden (vgl. „Des espaces autres“, 1967).
Die Einschränkungen und Veränderungen des Lebens, die wir erlebt haben, erleben oder vielleicht bald wieder stärker erleben werden, schaffen einen Anders-Ort, an dem etwas, was ansonsten nur eine Utopie (Nicht-Ort) war, Wirklichkeit wird: Reisen werden drastisch reduziert, Arbeiten im Home-Office der Standard, ländliche Regionen erfreuen sich großer Beliebtheit, während Innenstädte im Lockdown wie ausgestorben wirken – um nur wenige Beispiele zu nennen.
Das Unreale wird zum Alltag
Alles ist anders. Der Anders-Ort, den die Krise uns ungefragt und plötzlich betreten lässt, wird zum Schauplatz, der eine neue Art zu denken ermöglicht.
Wie in einem Theater oder einem Kinosaal betritt man einen Ort, an dem eine ganz andere Wirklichkeit gezeigt wird. Sie bietet Fläche für eine Reflexion der Art und Weise, wie unsere Gesellschaften funktionieren und wie wir leben.
Diese Art zu denken bleibt nicht in abstrakten Gedankenexperimenten stehen, sondern wird konkret, echt und real. Nicht mehr bloß ferne und unrealistische Utopien, die ein anderes Leben in einem aufschiebbaren Irgendwann, Irgendwo, Irgendwie entwerfen, sondern eine Heterotopie, die uns zwingt, tatsächlich anders zu leben. Eine Erfahrung, die zeigt, dass Veränderungen machbar sind. Die Begegnung mit einer Heterotopie ist eine Hilfe, aus dem Gewohnten herauszutreten und etwas ganz Neues zu entdecken.
Das unterscheidet Utopie und Heterotopie voneinander: Im Gegensatz zur Heterotopie ist die Utopie ein Bereich ohne wirklichen Ort, ein Nicht-Ort, eine nette Idee, ein Traum, der den Alltag aber doch nicht verändert, eine Fiktion.
Applaus, der doch stumm war
Auf dem Hoch der ersten Corona-Welle hatte eine Utopie einen festen Ort und eine feste Zeit: Jeden Abend um 20 Uhr applaudierte man auf Balkonen, an geöffneten Fenstern und auf öffentlichen Plätzen, um den sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen, vor allem dem Krankenhauspersonal, zu danken.
Der Applaus ist inzwischen verstummt, die Arbeit und der Pflegenotstand und eine geringe Bezahlung gehen munter weiter. Der tägliche Applaus von den Balkonen bleibt eine Utopie, die zwar gut gemeint ist, Unterstützung und Anerkennung zum Ausdruck bringen will, aber letztlich so hilfreich ist wie warme Gedanken gegen die Kälte.
Wie hoch ist der Preis?
Die drei Wochen mehr Zeit bis zum Erdüberlastungstag haben ihren Preis. Es ist unrealistisch, dass die Mehrheit dauerhaft bereit ist, ihn zu zahlen, und in vielen Fällen auch unklug. Aber die Corona-Krise zeigt als Heterotopie, dass schnelle Veränderungen möglich sind und Politik und Gesellschaft fähig sind zu handeln. Sind sie auch nachhaltig oder bleibt die „neue Solidarität“ eine utopische Floskel?
Vieles ist anders in dieser Zeit, aber es wird nicht automatisch anders bleiben. Weder Krise noch Heterotopie ersetzen eine Politik, aber sie zeigen, dass ein Anders möglich ist. Das Anders ist schwammig. Das Anders macht müde. Es ist oft ätzend und für viele existenziell.
Nicht-Orte und Anders-Orte tauchen auf und verschwinden, kommen und gehen. Wie Krisen lassen sie sich nicht planen. Die spannendere und entscheidendere Frage ist, was sie eigentlich gezeigt haben, welche Erfahrungsräume eröffnet wurden und was aus dieser ganz anderen Wirklichkeit resultiert.
Ergreifen wir die Chance zur nachhaltigen Reflexion unserer Gesellschaft und unseres Lebens? Es ist viel zu früh für ein Fazit, aber es könnte sich lohnen.
Dag Heinrichowski ist seit 2019 in Paris und erlebte dort auch den Lockdown. Leere Straßen, verlassene Plätze, überall eine seltsame Stille. Paris erlebt im November 2020 nunmehr den zweiten Lockdown. Von den wenigen Malen, die der Jesuit außerhalb der Räumlichkeiten der Gemeinschaft unterwegs war, hat er ein paar Fotos mitgebracht:
Fotos: Titelbild © Alihan Usullu/iStock.com, alle weiteren: © Dag Heinrichowski