Nawalny

Zusammenleben  

Alexej Nawalnys Schlusswort

Am 20. Februar 2021 sprach Alexej Nawalny vor dem Moskauer Stadtgericht ein Schlusswort, einen Monat, nachdem er nach Moskau zurückgekehrt und festgenommen worden war. Ich möchte dieses Schlusswort hier auch für sinnundgesellschaft dokumentieren. Wer immer die arte-Dokumentation (Becoming Nawalny. Putins Staatsfeind Nr.1) gesehen hat, wird dieses Zeugnis lesen können als das, was es ist: Ein Licht, das in der Finsternis leuchtet, die sich über Russland gelegt hat. Es gibt so viele, die sich fragen, warum Nawalny nach Russland zurückgekehrt ist, obwohl er wusste, was ihm drohte. Wir müssen die Antwort ihm selbst überlassen.


„Tja, ich soll also mein Schlusswort sprechen – spreche ich also mein Schlusswort. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch sagen soll, Euer Ehren. Soll ich mit Ihnen vielleicht über Gott und Erlösung reden? Den Pathos-Hebel auf Maximum stellen? Die Sache ist nämlich die: Ich bin ein gläubiger Mensch. Bei der Anti-Korruptions-Stiftung und in meinem Umfeld werde ich eher damit aufgezogen, die Leute sind da meist Atheisten, und ich war auch mal einer, sogar ein ziemlich militanter. Aber jetzt bin ich ein gläubiger Mensch, und das hilft mir sehr bei dem, was ich tue. Es macht alles viel, viel einfacher. Ich grüble weniger, ich habe weniger Dilemmas in meinem Leben – denn es gibt da so ein Buch, das mehr oder weniger genau beschreibt, was man in welcher Situation zu tun hat. Es ist natürlich nicht immer einfach, sich daran zu halten, aber ich versuche es im Großen und Ganzen. Und deshalb fällt es mir wohl leichter als vielen anderen, in Russland Politik zu machen.

Kürzlich hat mir jemand geschrieben: „Du, Nawalny, warum sagen dir eigentlich ständig alle: Halt durch, gib nicht auf, du musst es überstehen, beiß die Zähne zusammen … Aber was hast du denn eigentlich zu überstehen? Du hast doch in einem Interview gesagt, du glaubst an Gott. Und es steht ja geschrieben: Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Dann geht es dir doch bestens!“ Und ich dachte mir: Da versteht mich ja jemand richtig gut! Nicht, dass es mir gerade bestens ginge, aber dieses Gebot habe ich immer als Handlungsanweisung verstanden. Es macht mir zwar keinen Spaß, hier zu sein, aber ich bedauere auch keinesfalls meine Rückkehr und das, was ich gerade tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Ich fühle sogar so etwas wie Genugtuung, weil ich in einer schwierigen Zeit getan habe, was in der Anweisung steht. Ich habe das Gebot nicht verraten.

Eine wichtige Sache noch. Für den modernen Menschen klingt dieses Gebot natürlich viel zu pathetisch: „selig“, „hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“ …

Ja, es klingt ziemlich abgedreht. Ganz ehrlich: Menschen, die so was sagen, wirken schlichtweg verrückt. Es sitzt also irgendein Verrückter mit zerzausten Haaren in seiner Zelle und versucht, sich aufzumuntern. Solche Menschen sind natürlich einsam, sie sind allein, weil niemand sie braucht.

Und das ist das Wichtigste, was dieser Machtapparat, was unser ganzes System solchen Menschen sagen will: „Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger.“ Zuerst Angst einjagen und dann zeigen, dass du allein bist. Denn was für ein normaler, vernünftiger Mensch hält sich an irgend so ein Gebot? Ja, die Sache mit der Einsamkeit ist sehr wichtig. Es ist ein sehr wichtiges Ziel dieses Regimes. Übrigens hat die großartige Philosophin Luna Lovegood es ausgezeichnet auf den Punkt gebracht. Wissen Sie noch, die aus Harry Potter? Als sie sich in einer schwierigen Zeit mit Harry Potter unterhält, sagt sie: „Es ist wichtig, sich nicht einsam zu fühlen. Denn an Voldemorts Stelle würde ich sehr wollen, dass du dich einsam fühlst.“ Unser Voldemort in seinem Palast will das natürlich auch.

Wissen Sie, die Burschen, die den Gefangenentransport bewachen, sind tolle Jungs, und meine Wächter im Gefängnis sind auch okay – aber sie reden nicht mit mir. Es wurde ihnen wohl verboten. Sie sagen nur gelegentlich etwas Dienstliches. Und das ist eben auch so eine Sache, damit ich mich ständig einsam fühle. Aber das wirkt bei mir nicht. Und ich kann sagen, warum. Dieses „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden“ – das mag ja exotisch oder komisch klingen, aber in Wirklichkeit ist das aktuell die bedeutendste politische Idee in Russland. Sagen Sie doch selbst, Euer Ehren – es gibt in Russland so einen politischen Slogan, den populärsten überhaupt, wie heißt er noch mal? Helfen Sie mir aus: Wo liegt die Kraft? (Pause) Richtig, Kraft liegt in Gerechtigkeit. Das ist ein Satz, den alle zitieren. Und es ist ja genau das Gleiche – das gleiche Gebot, nur ohne diesen altmodischen Schnickschnack. Die gleiche Essenz, auf Twitter-Länge komprimiert. Und das ganze Land wiederholt es: Kraft liegt in Gerechtigkeit. Wer Wahrheit und Gerechtigkeit hinter sich hat, wird siegen.“


Ruhe in Frieden, du mutiger Mann.

Foto: © Mo Photography Berlin/shutterstock.com


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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