Tobias Zimmermann SJ wirft einen kritischen Blick auf das Leben und Wirken von Papst Benedikt XVI.
Natürlich scheidet Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst, nicht nur als Gescheiterter aus dem Leben. Die Höhepunkte seiner wechselhaften Biografie als eine die Kirche über Jahrzehnte prägende Gestalt werden in diesen Tagen ausgiebig gewürdigt. Mehr als man dem oft dröge und salbungsvoll wirkenden Mann der Schrift zutraute, konnte er Menschen begeistern. Sie haben nun natürlich das Recht, erst einmal zu trauern. Und als Jesuit sehe ich an der polarisierenden Gestalt natürlich auch das Verbindende: vor allem die Lebendigkeit seiner tiefen Liebe zu Jesus Christus, die sich nicht zuletzt in seinem Alterswerk ausdrückt.
Diese Bücher nahmen mich vor allem dort mit auf die Reise zu dem Mann aus Nazareth, wo sie den Anspruch des Theologen hintanstellten und primär dies sein durften: Zeugnis der lebendigen Auseinandersetzung eines frommen und gelehrten alten Mannes mit seinem Lebensthema.
Für nicht wenige Menschen war der nur auf den ersten Blick scheue Mann aber eben auch dies: ein Stein des schmerzhaften Anstoßes, der eine Kirche verkörperte und über Jahrzehnte federführend mitprägte, die den eigenen Macht- und Wahrheitsanspruch über die evangelischen Tugenden der Großzügigkeit, Barmherzigkeit und der Versöhnung stellte.
Auch dies gehört zu den Dingen, die am offenen Grab zu sagen sind.
Wie kaum jemand anderes verkörpert Joseph Ratzinger, 1927 in einfachen Verhältnissen in Oberbayern geboren, jedenfalls eine ganze Epoche: Als junger Theologe nimmt er am Zweiten Vatikanischen Konzil teil. Er verkörpert viele Hoffnungen auf eine Theologie, die sich traut, Fragen neu zu stellen, offen für eine Freiheit des Geistes, die auch jenseits vorgefertigter Spuren der Tradition zu denken wagt. Liest man spätere Dokumente des Theologen Ratzingers, dann atmen sie noch diese bestechende Stringenz, nichts mehr aber vom Wagnis des freien Denkens. Fragt man, wo der inspirierende und mutige junge Denker wohl unter die Räder kam, dann antworten nicht wenige Zeitgenossen, die unruhigen Zeiten der Studierendenrevolte, die Ratzinger in Tübingen erlebte, hätten ihn massiv verändert.
Kein Vertrauen mehr in die menschliche Vernunft
Offensichtlich kam ihm das Vertrauen in die menschliche Vernunft abhanden, oder vielleicht vorsichtiger gesagt: Er schaute in die Abgründe von Exzessen, zu der auch die nach Aufklärung strebende Vernunft fähig ist, und stellte sie dann unter Generalverdacht. Sicherheit suchte er ab da in einer Intellektualität, die in bewährten Glaubenssätzen ihren Anker findet, übersehend, dass auch hier der Mensch, auch der Mensch, dem ein kirchliches Amt anvertraut ist, grundsätzlich seiner Fähigkeit zum Missbrauch der ihm anvertrauten Gabe der Vernunft nicht entkommt.
Im Gegenteil: Die Erfahrung der Missbrauchskrise ist ja genau die: Je aufgeladener der Anspruch eines Amtes ist, Wahrheit und Moral mit letzter Autorität zu verwalten, desto größer ist die Versuchung zur Vertuschung von Fehlern, desto fataler wirkt sich das fehlende Korrektiv eines kritischen Diskurses aus, und desto entsetzlicher sind die Auswirkungen missbrauchten Vertrauens. Das ist aus meiner Sicht der Abgrund, in den der Papst am Ende seines Amtes blickte, und vor dem er durch seine Emeritierung kapitulierte.
Was aber macht den Menschen aus, wenn nicht Freiheit im Denken, die Fähigkeit, sich und die Schöpfung kreativ zu gestalten, und die Verantwortung, auf die Besonderheiten einer geschichtlichen Situation Antworten finden zu müssen? Wer den Menschen so skeptisch gegenübersteht wie Joseph Ratzinger, der kann im Kern nur schwer über das Wunder der Menschwerdung reden. Vielleicht ist es dies der Grund, warum mich am Ende seine Schriften über Jesus Christus dann doch so wenig berührt haben?
Tatsächlich spürt man hinter Joseph Ratzingers Ablehnung von allem, was Veränderung des kirchlichen Status-quo und Infragestellung theologischer Positionen bedeutet, gleich ob es um die Rolle des päpstlichen Lehramtes in der Kirche, die Rolle der Frau oder die Sexualmoral ging, diese tiefsitzende Angst vor der Erosion des Glaubensfundamentes und des Profils der kirchlichen Botschaft. Hatte das Zweite Vatikanische Konzil die Türen zu einer sich verändernden Welt weit aufgestoßen aus der Erkenntnis heraus, dass Inkarnation kein vor 2000 Jahren abgeschlossener Prozess ist, und damit jede theologische Wahrheit immer unter dem Vorbehalt der Inkarnation in die Grenzen der Geschichtlichkeit steht, so schien Joseph Ratzinger gerade an dieser Stelle den Dingen wieder einen Riegel vorschieben zu wollen. Konsequent wurde der Ton in seinen Texten immer etwas abschätzig, wenn er auf die historisch kritische Methode, die Bibel zu lesen, zu sprechen kam, auch wenn er sie gegen Generalangriffe ihrer konservativen Angreifer im Kern verteidigte.
Durchsetzung kirchlicher Tradition
Entgegen dem persönlich freundlichen Gesicht von Johannes Paul II. war das innerkirchliche Klima über Jahrzehnte geprägt durch den Versuch, mit dem Machtgestus kritische Debatten zu beenden. Es wäre sicher ungerecht, dies vor allem Joseph Ratzinger anzulasten, der schnell vom Erzbischof von München zum Leiter der Glaubenskongregation befördert wurde. Aber gerade auch ihm war anzumerken, dass er hinter jeder Kritik und hinter jeder Bewegung hin zu einer Veränderung den „Relativismus“, den Verlust an Substanz der Glaubensbotschaft, zu wittern schien. Gegen den „Relativismus“ half nur eines: die Durchsetzung von kirchlicher Tradition, wie er sie verstand, und des unfehlbaren Lehramtes der Kirche.
Joseph Ratzinger war es nicht gegeben, die machtpolitischen Härten dieser Sendung, die ihn antrieb, wie Johannes Paul II. mit packendem Charisma und jovialer Menschennähe wenigstens im Vorläufigen so zu ummanteln, sodass sie weniger anstoßend wirkten. Nicht wenige Betroffene seiner korrigierenden Amtsausübung fühlten sich deshalb nicht nur abgefertigt, sondern auch persönlich gedemütigt.
Dies galt z. B. im Konflikt um die staatliche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch: Viele loyale Katholikinnen und Katholiken hatten sich in Politik und Gesellschaft für eine Gesetzgebung eingesetzt, die auch den römischen Bedenken Rechnung tragen sollte. Sie fühlten sich nicht nur inhaltlich, sondern auch in Ton und Habitus des römischen Verdikts gegen die von ihnen vorgeschlagene Lösung abgefertigt und vorgeführt.
Aus meiner Sicht hatte dies einen massiven Vertrauensverlust gegenüber Rom bis hinein in konservative Milieus der Politik zur Folge. Und auch der spätere Auftritt des Papstes Benedikt im Parlament konnte nicht überdecken, dass der kirchliche Einfluss auf gesellschaftliche und politische Debatten ab da geradezu implodierte.
Sein Bemühen ehrt ihn
An Johannes Paul II. ist Joseph Ratzinger wohl mehrfach gescheitert, wenn er korrigierend auf ihn einzuwirken suchte: Die Option für die Armen als Grundauftrag der Kirche rettete er vor den Gegnern der Theologie der Befreiung erst als Papst. Und auch seinen etwas konsequenteren Kurs in der Verfolgung sexualisierter Gewalt in der Kirche konnte er erst als Papst durchsetzen. Sein Bemühen ehrt ihn. Aber am Ende sind dies Feinheiten, die das Scheitern an zentralen Stellen nicht verdecken können: Papst Johannes Paul II. und sein Weggefährte Kardinal Joseph Ratzinger versuchten die Einheit der Kirche mit einem zuvor nie gesehenen, machtvollen Durchgreifen der Zentrale herzustellen. Jede Kritik daran wurde mit dem Einwand abgeschmettert, man müsse die weltweite Kirche im Blick behalten und eine Kirchenspaltung verhindern.
Aber genau jene exzessive Entfaltung des römischen Anspruchs nach unfehlbarer Ausübung von Macht über die Seelen entfremdete die Menschen mindestens in Zentraleuropa massenweise bis hinein in zentrale katholische Milieus der amtlichen und institutionell verfassten Kirche. Sie verursachte also genau jene Kirchenspaltung, die sie zu vermeiden suchte. Mich schmerzt, wie blind und gleichgültig die kirchlichen Zentrale bis heute diesen massenweisen Austritt als Weggang der „Laien“ und als Folge von Säkularisierung, „protestantisierenden Tendenzen“ in der Kirche Deutschlands und westlichem Individualismus abzubuchen scheint. Die Kirche verliert auch und gerade die Engagierten und für ihren Glauben Brennenden aus allen Generationen. Es ist dem deutschen Theologen, Bischof und Papst nicht gegeben gewesen, hier ein Dolmetscher zu sein, weil er sich vor dem Schmerz über diesen Verlust offenbar selbst immunisierte.
Folgen des ungebremsten römischen Zentralismus
Denn es war der römische Zentralismus selbst, der nicht nur Amtsträger ständig in Gewissensnöte brachte, und dadurch die Glaubwürdigkeit des priesterlichen und bischöflichen Amtes erodieren ließ, das beiden Päpsten so am Herzen lag. Gerade der ungebremste römische Zentralismus, der vorgab, die Kirche mit Autorität von ihrer Verwicklung ins Weltliche retten und zurück zu einer Kirche des Eigentlichen und der Überzeugten führen zu wollen, führte diese Kirche in Wahrheit immer tiefer in sehr weltliche und zynische Strategien des Machterhalts und damit direkt in den Vertrauensverlust.
Da war der Augiasstall der Korruptionsskandale in der päpstlichen Bank. Nicht nur Amtsträger, sondern auch Gründer geistlicher Gemeinschaften, die von Rom hofiert wurden als Hoffnungsträger im Kampf vor den bösen Folgen des Relativismus, sind heute schwer belastet mit den Vorwürfen sexuellen und geistlichen Missbrauchs. Rom versuchte systematisch wegzusehen, bis es eben nicht mehr ging.
Der Rücktritt Papst Benedikts ist sicher ein Fortschritt im Amtsverständnis der Päpste. Vor allem aber ist es der Ausdruck eines Scheiterns nicht nur der Person Joseph Ratzingers, sondern eines Systems, das dieser maßgeblich über Jahrzehnte mitgestaltet hatte.
Das Ausmaß des Scheiterns ist an sich schon tragisch. Es ist menschlich umso bedauerlicher, weil Joseph Ratzinger im Rücktritt zwar die Konsequenzen des Scheiterns auf sich nahm, es aber nie vermochte, auch persönlich gegenüber den Betroffenen Schuld einzugestehen und Bedauern zu äußern. Die Last, einen Weg aus dem Scheitern zu finden, Fehler glaubhaft aufzuarbeiten und Versöhnung zu suchen, hat er seinem Nachfolger und kommenden Generationen schweigend übertragen.
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