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Zusammenleben  

Wie, der Kaiser hat schon wieder keine Kleider an?

Über (Un-)Moral und unseren Umgang mit dem Krieg in der Ukraine

Präsident Steinmeier hat sich entschuldigt. Wann endlich die Kanzlerin? Die Arena der Büßenden steht offen. Wer jetzt nicht an der Spitze der Handelnden steht, noch radikalere Sanktionen, noch mehr Waffen fordert … der ist einer dieser „alten“ Zauderer und untergräbt die Wehrhaftigkeit von Freiheit, Demokratie und westlichen Werte.

Einig tönt der Chor: Der Kaiser „Wandel durch Handel“ habe doch gar keine Kleider mehr angehabt, schon gaaanz lange nicht mehr! Natürlich gab es die interessengeleiteten Geschmacklosigkeiten. Die entsprechenden Akteure sind inzwischen ausgiebig durch das Dorf getrieben worden. Ansonsten viele falsche Einschätzungen. Und natürlich die Frage, warum dieses fast schon zynische Übersehen der Opfer der Annexionen in Tschetschenien, Georgien, in Syrien, der Krim, im Donbass? Dass Präsident Selenskyj selbst kurz vor Beginn der Offensive offenbar nicht an den großen Angriff glaubte, es stört das derzeitige Storytelling. Das fordert Selbstkasteiung.

Krieg als Futter für die Maschine des Infotainments

Fraglos hat die Ukraine das Recht, sich medial wirksam Unterstützung zu holen. Und die mediale Omnipräsenz des ukrainischen Präsidenten Selenskyj ist eindrucksvoll und wirksam aufgrund der persönlichen Authentizität, mit der er mutig und umsichtig Führung lebt. Ein weiterer Faktor, den die russische Führung in der Berechnung der Kosten des Krieges wohl unterschätzt hatte. Auf einem anderen Blatt aber steht, wie damit in Deutschland die Maschine eines Infotainments am Laufen gehalten wird, die aus Skandalisierung und Polarisierung Quote schöpft. So funktionieren Medien eben. Da muss sich niemand moralisch über Twitter erheben. Lanz funktioniert nicht anders. Er hat nur eingeschränktere Reichweite und kann dieses erstaunt betroffene „netter Schwiegersohn-Gesicht“ besser.

Aber Krieg ist nicht nur eine äußere Bedrohung. So wenig Naivität im Umgang mit Wladimir Putin und zynische Ignoranz gegenüber den Opfern seiner Gewalt angebracht war, so wenig können wir uns leisten, naiv mit der Eskalationslogik des Krieges umzugehen. Deswegen irritiert mich zunehmend die Distanzlosigkeit wichtiger Akteure aus der Regierung und dem politischen Berlin gegenüber der Dynamik des Infotainments.

Im Reich der Einschätzungen und Abwägungen

Wie immer man sonst zu Olaf Scholz stehen mag: Es schadet nicht, dass wenigstens er ab und an daran erinnert, dass seine primäre Verantwortung dem Schutz der Menschen gilt, zu deren Kanzler er gewählt worden ist. Dies zu sagen, bedeutet nicht, zu leugnen, dass Politik natürlich auch außenpolitisch die Verpflichtung hat, Humanität, Demokratie und Freiheit nach Kräften zu schützen. Deutlich wird aber, dass das eine nicht notwendig deckungsgleich mit dem anderen ist. Auch die Einschätzung, dass eine entschiedene Unterstützung der Ukraine letztlich auch unserem Schutz dienen könnte, ist ernst zu nehmen. Es ist aber eine Einschätzung.

Ob sie weiterträgt, als die Einschätzungen, die wir eben mit viel medialem Pomp auf den Friedhof der Geschichte werfen? Wir werden es rückwirkend wissen. Ebenso den Preis, den nun andere Menschen mit ihrer Freiheit, ihrem Leben und ihrer Selbstbestimmung zahlen müssen, weil wir verstärkt in anderen Regionen mit Autokratien Geschäfte machen. Mit all dem befinden wir uns im Reich der Einschätzungen und Abwägungen. Sie aber brauchen Zeit, Nachdenken und Nachfragen. Deshalb kann es uns nicht kalt lassen, wie gerade eine moralisch aufgeladene Öffentlichkeit bis hinein in die Regierungsparteien versucht, Regierungshandeln und Politik mit apodiktischen Moralurteilen und Einschätzungen, die sich als Prophetie gerieren, vor sich herzutreiben.

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Zuhören ist gerade jetzt wichtig

Selten sind nachdenkliche Stimmen, wie die von Jürgen Habermas, der in einem Gastbeitrag in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf aufmerksam macht, wie wichtig gerade jetzt Zuhören wäre. Er verweist darauf, dass politische Positionen sich aus unterschiedlichen Lebenserfahrungen von Generationen und Milieus speisen. Sie alle haben Berechtigung und Grenzen. Es gibt – vielleicht/hoffentlich nachhaltig – eine gewachsene moralische Sensibilität für globale Verantwortung. Es lohnt aber auch, auf die Erfahrungen derer zu hören, die mit den Folgen eines Weltkrieges und der atomaren Bedrohung aufgewachsen ist. Denn wahr ist auch, dass Kriege unter dem Vorzeichen einer atomaren Bedrohung eben nicht im Schema von Sieg oder Niederlage zu beenden sind. Deswegen ist es einfach falsch zu sagen, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen.

Denn Russland wird nur zum Frieden zu bewegen sein, wenn es irgendeine auch für Russland gesichtswahrende Lösung gibt.
So furchtbar dies ist!

Statt Abwägungen wie diese, ein Überbietungskampf in Betroffenheitsrhetorik und Schuldzuweisungen quer durch Regierung und Parteien. Auch Friedrich Merz zeigt in der Opposition eben nicht Stärke, wenn er die Situation der Union offenbar als so prekär einschätzt, dass er mitten in der Krise jede Kerbe nutzen muss, um dem Kanzler Führungsschwäche zu attestieren. Und der gesellschaftliche Preis der Polarisierung ist groß. Oder denkt jemand wirklich, dass es wirklich ein Zeichen moralischer Überlegenheit unserer Gesellschaft ist, wenn russische Kulturschaffende, die sich – aus welchen Gründen auch immer – zu keinem öffentlichen Verdikt des Handelns ihrer Regierung durchringen können, ihre Engagements im deutschen Kulturbetrieb verlieren, wo Meinungsfreiheit angeblich hoch gehalten wird. Werden also durch die Skandalisierungsmaschine nicht längst exakt die Werte konterkariert, für die einzutreten wir vorgeben?

Friedenspolitik ist mehr als »Frieden schaffen ohne Waffen«

Natürlich hat der Überfall auf die Ukraine hoffentlich auch den letzten verbohrten Ideologen gezeigt, dass der Kaiser keine Kleider anhatte und es natürlich nicht erst heute unterkomplex ist, wenn Friedenspolitik auf den Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“ reduziert wird. Der Slogan und der Dauerkrampf im ausgestreckten moralischen Stinkefinger gegen die USA funktionierten für ein deutsches Wohlstandmilieu auch nur deshalb, weil diese Demonstration eigener moralischer Überlegenheit unter einem funktionierenden atomaren Abschreckungsschirm der USA stattfinden durfte, und zwar aufgrund einer Meinungsfreiheit, die bei den Regimen meist nicht gegeben war, die gern zu Opfern der USA stilisiert wurden. Das Leid in Georgien, Tschetschenien, der Völkermord an den Uiguren in China? Politisch einfach weg geschwurbelt mit relativierender, antikapitalistischer Rhetorik aus dem Antiquariat des kalten Krieges.

Es ist nicht das erste Mal, dass diese Form von Friedenspolitik beim ersten Kontakt mit realer Gewalt kollabiert. Vor kurzem war sich die Republik noch einig im Verdikt, der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr sei gescheitert. In Realität war vielleicht weniger dieser Einsatz gescheitert, als die übersteigerten moralischen Ambitionen, die auf ihn politisch geladen wurden. Mal sollte die Bundeswehr nicht weniger als eine offene Gesellschaft nach westlichem Vorbild aufbauen. Mal wurde die Freiheit am Hindukusch verteidigt. Die Ukraine verteidigt unsere Freiheit. Sätze, wie dieser eines ansonsten durch Nachdenklichkeit und Nuanciertheit eher positiv auffallenden Robert Habeck, siedeln gefährlich nahe an den routinierten Mechanismen und Dynamiken einer Debatte, die eher kein Beleg für eine Zeitenwende sind, sondern die Frage aufwerfen, warum in Deutschland in Fragen der Sicherheitspolitik ständig der eine nackte Kaiser dem anderen nackten Kaiser im Kreis hinterher läuft. Das sollten wir umgehend beenden. Denn der Preis ist im Zeitalter atomarer Bedrohung groß.

Fotos: Headerbild © Zane Magone/photocase.com, © Serhii Ivashchuk/istock.com


Tobias Zimmermann SJ

ist Priester, Pädagoge und Jesuit. Als Autor und als Mitbegründer des Zentrums für Ignatianische Pädagogik (ZIP), das er seit Oktober 2019 leitet, arbeitet Tobias Zimmermann an Projekten der Entwicklung der katholischen Schulbildung und Spiritualität, in der Schulentwicklung, im Coaching für Leitungskräfte und in der Fortbildung von Schulleitungen und Pädagogen. Seit Oktober 2019 ist er Direktor des Heinrich Pesch Hauses und wirkt mit an der Weiterentwicklung der Akademie im Bereich Online-Bildung, neue Schwerpunktthemen sowie an der Entwicklung der Heinrich Pesch Siedlung, einem Modellprojekt für soziale und ökologische Stadtentwicklung.

Foto: Stefan Weigand

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