Erich Garhammer über die Kindheitserinnerungen des Schriftsteller SAID
Tatsächlich haben die Kindheitserinnerungen des Schriftstellers SAID nun ihre Veröffentlichung gefunden. Die Memoiren tragen den Titel »ein vibrierendes kind« und nehmen mit in den Iran zur Mitte des 20. Jahrhunderts. So ersteht vor dem inneren Auge noch einmal ein ganz besonderer Mensch: weich und sensibel, der Rührung fähig – auch bis zu seinem plötzlichen Tod am 15. Mai 2021 neugierig und überraschungsfähig, aber auch zornig und rebellisch gegen Unrecht und übertriebenen Kommerz. Erich Garhammer blickt näher auf das Buch des bemerkenswerten Autors.
Wie gern hätte SAID diese Texte noch zu Lebzeiten veröffentlicht gesehen. Immer und immer wieder hat er sie zur Publikation angeboten. Auch mir. Wir haben nach Verlagen gesucht, doch stets die gleiche Geste des Abwinkens: interessante Texte, aber sie müssen ja auch Käufer finden.
Ich konnte beim Echter Verlag wenigstens einen Text von ihm separat veröffentlichen „ich jesus von nazareth“, der vorher schon im Band „Das Niemandsland ist unseres. West-östliche Betrachtungen“ (2010) erschienen war, dort aber unterging und nun plötzlich in der bibliophilen Aufmachung auf breites Interesse stieß.
Warum hätte SAID so gerne seine Kindheitstexte veröffentlicht gesehen? Es hängt mit seiner Exilserfahrung zusammen. Das Deutsche wurde ihm, als er 1965 am Flughafen in Frankfurt deutschen Boden betrat, zur zweiten Heimat. In dieser Sprache lernte er nicht nur sich auszudrücken, es wurde auch die Sprache seiner literarischen Texte in der Tradition von Goethe und Hölderlin.
Aber er machte die seltsame Erfahrung: in einer fremden Sprache kann man alles nachholen bis auf die eigene Kindheit.
Die Laute der Kindheit bieten eine Geborgenheit, die für die späteren Jahre entscheidend ist. Und diese Kindheit ist mit einer ganz speziellen Sprache verbunden, dem Persischen. Noch wenn er heute aufwache, sei sein erstes Wort persisch, genauso wie sie die Sprache des Flüsterns und die Sprache der Liebe bleibe. Deshalb sein großer Wunsch: eines Tages würde ich gerne im Persischen heimkehren.
Neugierig, überraschungsfähig, zornig und rebellisch
Nun haben wir seine Kindheitstexte als posthumes Vermächtnis. Und so ersteht vor dem inneren Auge noch einmal ein ganz besonderer Mensch: weich und sensibel, der Rührung fähig – auch bis zu seinem plötzlichen Tod am 15. Mai 2021 neugierig und überraschungsfähig, aber auch zornig und rebellisch gegen Unrecht und übertriebenen Kommerz.
Was vertraut er uns in diesen Kindheitstexten an? Eine Geburt unter ungünstigsten Bedingungen, zur Stunde der Geburt waren die Eltern bereits geschieden, die Ehe hat nur 41 Tage gedauert. Ein Aufwachsen bei den Verwandten, der Vater ist Leutnant der Armee, der oft zu Ross und in Uniform nach Hause kommt. Das Kind ist kränklich, hustet und kommt in den Sommermonaten an das Kaspische Meer zu einer fürsorglichen Tante. Dann epileptische Anfälle, der Vater bringt das Kind zum Militärarzt, der tröstet: „Das legt sich mit den Jahren“.
Goethe, Camus und das verheißungsvolle Europa
Ein besonderes Ereignis dann die Beschneidung; danach trägt das Kind einen Mädchenrock, weil die Hosen zu eng sind und kratzen. Die Nachbarkinder spotten: „Mademoiselle, Mademoiselle“. Dann die vielen neuen Frauen für den Vater: eine starke Raucherin ist dabei, deshalb darf sie das Kind nicht auf den Schoß nehmen, Großmutter ist besorgt. Mit sieben Jahren lernt der Junge zum ersten Mal den Name Goethe kennen, im Gymnasium kommt er in Berührung mit Camus und weiß von diesem Augenblick an: dieses Europa bedeutet Freiheit. In der Pubertät dann das Geschenk eines Rasierapparats und der obligatorische Besuch im Puff steht an: „Komm, Kleiner, Tamara macht alles für dich.“
Dann das Abiturjahr, die Noten sind gut, der Junge soll Bauingenieur werden. Aber die besten Noten hat er in den Sprachen, er will Literatur studieren. Der Vater besorgt ein Ticket nach Europa. Der Junge geht über das Rollfeld und steigt in das Flugzeug der IRAN AIR. Als sie in der Luft sind, bestellt er eine Schachtel amerikanische Winston: die Kindheit war zu Ende, eine ungewisse Zukunft stand bevor.
Diese Texte haben mich noch einmal den Poeten SAID neu entdecken lassen. In vielen Lesungen hatte ich ihn kennenlernen können: ich habe ihn nach Freising eingeladen in meine literatur-theologischen Kurse, er war zu Gast auf dem Katholikentag in Regensburg 2014 auf einem Donauschiff, er hat auf dem LIT.fest in München gelesen zum 50.-jährigen Jubiläum des Abschlusses des 2. Vatikanischen Konzils und er war in Würzburg zu Gast in der Stadtbibliothek, der Augustinerkirche und in einem Psalmenseminar an der Universität. Am meisten aber hat er sich gefreut, dass ein Text von ihm in das neue Gotteslob Eingang gefunden hat.
Eine Bitte am Grab
Als ich 2019 in den Iran reiste, legte er mir ans Herz, am Grab des Dichters Hafis darum zu bitten, dass er noch einmal seine Heimat besuchen könnte. Es war ihm nicht mehr vergönnt. Hafis hatte ihn von Kindheit an begleitet. In seinem Buch „ein vibrierendes kind“ erzählt er, dass um das Grab von Hafis auch Kranke und Flüchtende versorgt würden: „um den schrein des dichters gibt es einfache behausungen für die flüchtenden – ohne miete. Eine gemeinnützige stiftung sorgt dafür, die hier leben, kennen die geldgeber nicht. Eine begegnung findet nicht statt, die vermittler, die alles regeln, nennen sich diener hafes‘“. (84).
Auch sein Großvater ist dort gestorben. Es gibt sogar eine Legende, dass sich eine Gazelle vor ihren Jägern an das Grab von Hafis gelegt habe, die Jäger gaben auf, niemand wagte es das Gehege des Propheten zu entweihen. Und SAID erinnerte sich, dass zuhause der Diwan von Hafis in dunklem Samt eingeschlagen war, in einer Wandnische sichtbar wie eine Ikone, die tröstet. Und man wusch sich die Hände, wenn man zu Hafis griff: dann küsste man ihn ehrerbietig, bevor er aufgeschlagen wurde.
Hafis hat mir die Bitte nicht erfüllt, dass SAID noch einmal in seine Heimat reisen konnte. Dafür hat SAID uns sein Kindheitsbuch hinterlassen. Dem Beck Verlag sei Dank für diese bibliophile Ausgabe und Michael Scholz für das ergreifende Nachwort.
Über SAID
SAID, 1947 in Teheran geboren, lebte seit 1965 in München. Er starb im Mai 2021. Sein literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis, der Goethe-Medaille und dem Friedrich-Rückert-Preis. Für sein politisches Engagement und seinen persönlichen Einsatz für verfolgte und inhaftierte Schriftsteller wurde SAID 1997 die Hermann-Kesten-Medaille verliehen. Von Mai 2000 bis Mitte 2002 war er Präsident des deutschen PEN-Zentrums.
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