Sinn  

„Wenn du den Neustart jetzt nicht wagst …“

Melanie Wolfers über Aufbrüche, Lebensentscheidungen und die Kunst, den eigenen Weg im Leben zu finden

Melanie Wolfers ist Ordensfrau, Speakerin und begleitet als Seelsorgerin Menschen in alltäglichen und besonderen Situationen. Mit ihren Büchern zählt sie zu den erfolgreichsten spirituellen Autorinnen im deutschsprachigen Raum. „Atlas der unbegangenen Wege“ heißt das neueste Buch der Theologin, das sie gemeinsam mit Andreas Knapp geschrieben hat. In Österreich hat der Band es auf Anhieb auf die Bestsellerliste geschafft. Was hat es damit auf sich – und wie kam die Idee für das Buch zustande? Melanie Wolfers gibt im Interview Auskunft.

„Atlas der unbegangenen Wege“ – das ist kein gewöhnlicher Titel für ein Sachbuch. Um was geht darin genau?

Unser Leben verändert sich ständig. Ihm wohnt eine Dynamik inne, die uns immer wieder aufbrechen lässt. Vielleicht ist es das leise Unbehagen: „Irgendwie lebe ich ein Stück an mir selber vorbei“. Eine unverhoffte Chance, die sich auftut, oder eine Lebensphase, die zu Ende geht. Aber auch äußere Ereignisse können das Leben auf den Kopf: eine Krankheitsdiagnose oder eine zerbrechende Beziehung. Das Buch gibt eine innere Landkarte, um sich besser orientieren zu können, wenn ein Neuanfang ansteht oder jemand mitten in einem Veränderungsprozess steckt.

Sie haben das Buch gemeinsam mit Andreas Knapp geschrieben. Wie ist eigentlich die Buchidee entstanden?

Seit vielen Jahren begleiten und beraten Andreas Knapp und ich Menschen. In unserem Gesprächen taucht in wechselndem Gewand immer wieder eine Grundfrage auf: Wie kann ich mein Leben so führen, dass es mehr meines wird? Und ich es als stimmig und lebendig erfahre?

Für uns beide gibt es nichts Schöneres, als wenn Menschen ihre wahre Größe entdecken und leben. Deswegen haben wir das Buch geschrieben!

Haben Sie auch selbst Erfahrungen mit Abbrüchen und Neuorientierung im Leben?

Ja natürlich! Auch schon deswegen, weil wir – so Brad Stulberg – in einem normalen Erwachsenenleben im Durchschnitt 36 sogenannte disorder events durchlaufen, also Ereignisse, die unseren Alltag freiwillig oder unfreiwillig auf den Kopf stellen.

Ein großer Umbruch war, als ich 2004 meine Zelte in München abbrach, um in die internationale Gemeinschaft der Salvatorianerinnen einzutreten. Ich habe mich n München beruflich und privat wie ein Fisch im Wasser gefühlt und spürte dennoch: „Es muss doch mehr als alles geben.“ (Dorothee Sölle) Ich sehnte mich nach einem gemeinsamen Leben mit anderen, in dem Engagement und Gebet Platz haben. Anders gesagt: nach einem Leben, wo ich die Hände falte und die Ärmel hochkremple.

Bei den Salvatorianerinnen habe ich dies gefunden. Natürlich hatte ich beim Aufbruch mit Zweifeln und Ängsten zu kämpfen, aber ich wusste: „Melanie, wenn du den Neustart jetzt nicht wagst, wirst du dich in zehn Jahren fragen, ob du an einer stimmigeren, erfüllteren Weise deines Lebens vorbeilebst.“ Mit diesem Zweifel wollte ich nicht leben! Und so bin aufgebrochen und inzwischen seit 21 Jahren in der Gemeinschaft.

Melanie Wolfers

Gab es beim Schreiben eine Erkenntnis, die Sie so vorher noch nicht hatten?

Ja, und diese betrifft das unangenehme Gefühl der Unsicherheit. Ich habe durch die Philosophin Natalie Knapp tiefer verstanden: Das Gefühl der Unsicherheit ist kein Mangel-Zustand. Vielmehr ist dieses Gefühl in der Evolution vorgesehen, um Entwicklungen zu ermöglichen.

Der Unsicherheit wohnt eine schöpferische Kraft inne, denn sie nötigt uns, Neues zu entwickeln. Ihre Botschaft lautet nämlich: „Achtung, du kennst dich hier nicht aus. Hier passiert etwas Unvorhergesehenes, vielleicht sogar wirklich Neues. Routine greift hier nicht, sondern du kannst dich nur Schritt für Schritt vorantasten.“

Um den Perspektivwechsel auf dieses ungeliebte Gefühl zu vollziehen, hilft mir, mich immer mal wieder zu fragen: Sehe ich Unsicherheit primär als störend an oder sogar als ein Zeichen von peinlicher Schwäche? Oder wecken unsichere Zeiten in mir (auch) eine wache Bereitschaft, mich vom Leben überraschen zu lassen? Traue ich ihnen ein kreatives Potential zu?

Woran scheitern die meisten Menschen bei Neuorientierungen?

Viele wollen ein neues Leben anfangen, aber kaum jemand will sein altes aufgeben. Es klingt paradox, trifft jedoch zu: Auch wenn es Menschen vor ihrem zermürbenden Arbeits-Alltag graut, oder sie sich in einer Beziehung nichts mehr zu sagen haben, ändern sie oft nichts. Lieber verbleiben sie im gewohnten Unglück als das Risiko des Unbekannten einzugehen. Denn das würde ja bedeuten, sich auf einen Weg einzulassen, dessen Verlauf und Ausgang völlig offen sind …

„Im eigenen Leben zuhause sein“ – das ist eine Wendung aus Ihrem Buch. Was tun Sie selbst dafür, dass Sie in Ihrem eigenen Leben zuhause sind?

Da gibt es vieles. Ich beginne mal mit etwas ganz Basalen: Ich achte auf genügend Schlaf und ausreichend Bewegung. Auch versuche ich, mir täglich einen Freiraum zu schaffen für Muße –  also eine zweckfreie Zeit, in der ich etwas lese, Musik mache oder rausgehe. Und ich pflege persönliche und gemeinsame Zeiten der Stille und des Gebetes. All das ist übrigens auch für mich als Ordensfrau eine echte und stetige Herausforderung, denn ich bin in der Rushhour des Lebens, in der die Aufgaben und Anfragen nicht enden. Und hinzukommt, dass ich meiner Arbeit mit große Freude nachgehe.

Ein zweites: Ich versuche, regelmäßig meinen Alltag einzunorden, etwa indem ich mich frage: „Melanie, wofür stehst du morgens gerne auf? Für was oder wen bist du bereit, die berühmte Extrameile zu gehen? Was sind deine fünf wichtigsten Werte? – Und wie sieht es in deinem konkreten Alltag tatsächlich aus?“ Dass ich meine Arbeit als so erfüllend und sinnvoll erfahre, erlebe ich dabei als großes Geschenk.

Und drittes sind tragfähige, vertrauensvolle Beziehungen für mich ein ganz wesentlicher Aspekt, um mich in meinem Leben zu Hause zu fühlen.

Sie sind Ordensfrau. Hilft der Glaube dabei, Orientierung im Leben zu finden?

Natürlich! Beten etwa meint ganz wesentlich, dass wir uns von der Haltung und Gesinnung Jesu prägen lassen. Und dass wir uns die Hoffnungen Gottes für unsere Welt zu eigen machen: ein Leben aller in Gerechtigkeit und Frieden, die Wertschätzung alles Lebendigen, Solidarität, Güte und Freimut …

Und ein Zweites: Wenn ich mal wieder nicht weiß, wie es weitergeht – sei es im Blick auf mich selbst, auf andere und auf unsere Welt –, dann weckt das Versprechen Gottes „Ich bin da, wo du bist“ (Exodus 3,14 in der Übersetzung von Martin Buber) Vertrauen und Zuversicht. Und das führt ins Handeln.

Atlas der unbegangenen Wege

Buchcover Atlas der ungegangenen Wege

Das Leben liegt vor uns wie eine unbekannte Landschaft, die es zu durchqueren gilt. Mitten im Alltag träumen wir von einem anderen, besseren Leben; spüren einen Ruf nach Veränderung. Immer wieder müssen wir neu aufbrechen, Schwierigkeiten und Lebenskrisen überwinden und uns Herausforderungen stellen. Damit die persönliche Entwicklung gelingt und wir auch innerlich wachsen und reifen, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, worauf es wirklich ankommt. Dazu laden Melanie Wolfers und Andreas Knapp mit ihrem Buch ein. 

Melanie Wolfers und Andreas Knapp haben in ihrem Leben große Umbrüche erlebt, verbinden eigene Erfahrungen mit grundsätzlichen Überlegungen und Fragen zur Selbstreflexion. Sie geben uns eine innere Landkarte an die Hand, um besser durch Umbruchzeiten des Lebens navigieren zu können.

Melanie Wolfers & Andreas Knapp
Atlas der unbegangenen Wege
Eine Reise zu dir selbst
bene!-Verlag
224 Seiten
ISBN 978-3-96340-323-1

Headerfoto: Ulrik Hölzl; Bergfoto: privat


Melanie Wolfers

Nachdem sie ihre ersten 18 Lebensjahre am Meer verbracht hat, sucht Melanie Wolfers bis heute stets neu nach weiten Horizonten und geht Dingen auf den Grund. Ernsthaft in Betracht gezogene Karrieren: Biolandwirtin, Flötistin, Ärztin, Biologin. Doch es kam anders: Diplom in Theologie, Magister in Philosophie in Freiburg und München und eine Promotion in theologischer Ethik. Heute ist die Salvatorianerin gefragte Rednerin, erfolgreiche Autorin und Ordensfrau mitten in Wien. Über ihre Bücher sagt sie: „Ein Buch, das ich schreibe, hat viel mit mir selbst zu tun! Es muss mir selbst Fragen beantworten bei meiner Suche nach einem gelingenden Leben. Und zu einem solchen Leben gehört für mich, wenn ich Lebensfreude, inneren Frieden und eine tiefe Verbundenheit mit allen und allem spüre.“ Zuletzt ist von ihr erschienen: „Nimm der Ohnmacht ihre Macht“ (bene! Verlag, 2023) – www.melaniewolfers.de

Foto: © Cathrine Stukhard

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