Tobias Zimmermann SJ Jesuit

ZIMMERMANNS MEINUNG

Entlarvende Prioritäten

Lasst uns das Schuljahr verlängern!

Die ablehnenden Reaktionen aus Politik und Wirtschaft kamen umgehend via Tagesschau. Eine Verlängerung des Corona-Schuljahres 2020/2021, wie sie der Bildungsforscher Marcel Helbig vorschlägt, sei auch für die Bewältigung der Folgen der Jahrhundertkrise Corona nicht machbar. Das verrät viel über die tatsächlichen Prioritäten hinter dem sorgenvollen Lamento um die Schulschließungen.

„Wir haben eine Pandemie – eine absolute Ausnahmesituation. Wir waren auf digitales Lernen nicht gut vorbereitet und sind es immer noch nicht! Es ist nicht deine Schuld, dass du den Lernstoff nicht erworben hast! Wir finden eine Lösung, bei der wir uns Zeit für dich nehmen!“ Der Bildungsforscher Marcel Helbig schlägt im Tagesspiegel vor, diese Botschaft zu verbinden mit einer Verlängerung des Krisenschuljahres 2020/2021 bis Dezember, um Schüler*innen und Lehrenden ausreichend Zeit zu geben, um die Folgen von Corona und Schulschließungen zu bewältigen.

Endlich, dachte ich mir, ein konstruktiver Vorschlag nach all den epischen und moralisierenden Balladen um die Langzeitfolgen für die arme „Generation Corona“.

Jetzt kann ein konstruktiver Diskurs beginnen, wie wir als Gesellschaft den Schüler*innen und Schülern helfen können, die Folgen der Krise zu bewältigen, wenn wir sie schon nicht vor den Auswirkungen der Krise schützen konnten.

„Wir haben nichts im Griff gehabt außer das nackte Überleben!“

All das sorgenvolle Wichtig-Gerede, wie sehr sich die Gesellschaft an den jungen Leuten vergehe, weil man die Schulen geschlossen – oder diese nicht ausreichend für den digitalen Unterricht vorbereitet habe, musste an den Realitäten stranden. Denn hinter all dem Moralin waren gegenseitige Schuldzuweisungen aber keine brauchbaren Konzepte zu finden, außer jenen vom Mars, die darin bestanden, die Schulen einfach aufzulassen. Und vielleicht wäre dies ja ein erwachsenes Eingeständnis gegenüber den jungen Leute: Wir haben nichts im Griff gehabt außer das nackte Überleben!

Corona hat uns alle im Griff gehabt. Es gibt Ereignisse, die so mächtig sind, dass niemand Euch beschützen konnte, nicht der angeblich allmächtige Dienstleisterstaat, nach dem alle schreien und der gerne viel verspricht, aber auch nicht all wir „klugen“ Erwachsenen. Aber mit den Folgen lassen wir Euch nicht alleine! Dafür nehmen wir uns Zeit. Und dahinein investieren wir Kraft und Ideen.

Die ablehnenden Reaktionen ließen nicht auf sich warten.

Das gehe natürlich schon alleine deshalb nicht, weil ja die Ausbildungsjahre in der Wirtschaft am Schulabschluss hingen. Was im politischen Raum für „machbar“ gehalten wird, verrät viel über die tatsächlichen Prioritäten. Vorschriften, Verwaltungsabläufe ändern und der Wirtschaft einen späteren Ausbildungsbeginn zumuten: „Nicht machbar!“ Für „machbar“ halten aber einige offenbar Sommerschulen, damit Schüler*innen den „verpassten Stoff“ aufholen. Es bräuchte nur wenig Empathie, um derartige Vorschläge selbst zu kassieren, bevor man sie überhaupt macht.

Sind junge Menschen nun wichtig – oder nicht?

Wer Schüler*innen, Eltern und Lehrenden nach diesem Marathonjahr auch noch die Ferien kürzen will, weiß von der derzeitigen Realität an den Schulen nichts und hat offenbar null Empathie, um es sich wenigstens vorzustellen. Alternativ werden gar keine Vorschläge gemacht, nach dem Motto: „Kinder, wir machen uns wahnsinnig Sorgen, fühlen uns auch ganz arg schuldig, aber jetzt lernt gefälligst den versäumten Stoff ein bisschen schneller nach!“ Oder es findet ganz pragmatisch eine Konzentration des Unterrichtes auf die „wichtigen“ Kernfächer statt. Ne, klar, wir sind alle für die umfassende Förderung von Talenten. Aber im Ernst, mit den Gedöns-Fächern halten wir halt leider nicht unseren Rang in Pisa und Weltwirtschaft.

In all dem zeigt sich, wie wichtig tatsächlich der Mensch im System Schule ist, nicht wahr? Also: Hört entweder auf mit dem Rumheulen wegen der Schulschließungen und ihrer Folgen für die „armen Kinder“, wenn es am Ende doch wieder nur um die Betreuungszeiten für Arbeitnehmer*innen und um den „Stoff“ geht.

Oder: Wie wäre es, tatsächlich unorthodoxe, einfache Mittel zu ergreifen, auch wenn sie der Bürokratie Arbeit und der Wirtschaft Kompromisse abverlangen? Lasst uns das Schuljahr verlängern, und zwar nicht nur, damit alle Schüler*innen – auch die, die keine begnadeten Lehrer*innen als Eltern haben – den „Stoff“ nachholen.

Sondern damit vielleicht auch Zeit bleibt, um – nicht zuletzt in den „Gedöns“-Fächern – zuzuhören, welche Erfahrungen Schüler*innen im vergangenen Jahr gemacht haben, um mit ihnen zu reflektieren, was all das für sie bedeutet hat, was sie erlebt haben, und um mit ihnen auch kritisch über das Handeln der Erwachsenen nachzudenken. Ob sie das zu besseren Arbeitnehmer*innen macht? Vermutlich sogar das, wenn Arbeitnehmer*innen mehr sind als Ausführende für Vorgaben. Ziemlich sicher aber fühlen sie sich herausgefordert zum Nachdenken und als Menschen ernst genommen.


Tobias Zimmermann SJ

ist Priester, Pädagoge und Jesuit. Als Autor und als Mitbegründer des Zentrums für Ignatianische Pädagogik (ZIP), das er seit Oktober 2019 leitet, arbeitet Tobias Zimmermann an Projekten der Entwicklung der katholischen Schulbildung und Spiritualität, in der Schulentwicklung, im Coaching für Leitungskräfte und in der Fortbildung von Schulleitungen und Pädagogen. Seit Oktober 2019 ist er Direktor des Heinrich Pesch Hauses und wirkt mit an der Weiterentwicklung der Akademie im Bereich Online-Bildung, neue Schwerpunktthemen sowie an der Entwicklung der Heinrich Pesch Siedlung, einem Modellprojekt für soziale und ökologische Stadtentwicklung.

Foto: Stefan Weigand

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