Kirche Zukunft Holzkirchen

Versöhnung  

Hat Kirche eine Zukunft?

Peter Klasvogt zeigt Perspektiven für eine Weiterentwicklung der Kirche auf

Kirche kann sich nicht einfach neu erfinden, muss aber ihre ureigene Gestalt jeweils neu in dem Wechsel der Zeit finden. Sie ist darauf angelegt, in Treue zur Tradition ihre überzeitliche Mission jeweils neu in die Gegenwart hinein zu buchstabieren. Damit ist sie immer wieder herausgefordert, überkommene Strukturen hinter sich zu lassen und organisch hineinzuwachsen in jeweils angemessenere Formen des Kircheseins, in Auseinandersetzung mit Organisationsmodellen, wie sie je neu weiterentwickelt werden.

Auch hier gilt der Grundsatz:

Prüft alles, das Gute behaltet!

1 Thess 5,21

Zugleich ist damit auch ein innerer Konflikt zwischen Bewahrung und Erneuerung verbunden. Denn das Neue ist nicht per se besser als das Alte; hier entsteht leicht der Vorwurf bzw. Verdacht der Anbiederung an den Zeitgeist. Aber auch umgekehrt gilt: Nicht nur das Neue ist jeweils begründungspflichtig; auch das Festhalten am Überkommenen, die verweigerte Offenheit für das Neue bedarf der Rechtfertigung.

Die Zeichen der Zeit erkennen

Wenn der katholischen Kirche (zu Recht) oft ein traditionslastiges Verständnis vorgehalten wird, was der Dynamik des Wirkens Gottes wenig entspricht, dann ist gleichzeitig immer wieder nach den „Zeichen der Zeit“ zu fragen, der Auseinandersetzung mit den Lebenswelten, auch den Erkenntnissen von Wissenschaft und Forschung – und der Herausforderung, mit ihnen einen konstruktiven Dialog einzugehen. Diese Präferenz für die Bewegung ins Offene, wenngleich Risikobehaftete, ist auch bei Papst Franziskus unverkennbar, nicht aus einem billigen Fortschrittsoptimismus heraus, sondern aus einer geistlichen Haltung, dem Vertrauen in die Wirkmacht des Geistes Gottes, der nicht einschließt, sondern befreit, herausführt, der Fülle entgegen.

Der Zeit Vorrang zu geben bedeutet sich damit zu befassen, Prozesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen … Es geht darum, Handlungen zu fördern, die eine neue Dynamik in der Gesellschaft erzeugen und Menschen sowie Gruppen einbeziehen, welche diese vorantreiben, auf dass sie bei wichtigen historischen Ereignissen Frucht bringen.

Evangelii Gaudium 223

Wie wollen wir zukünftig zusammenleben?

Ist Frédéric Laloux also ein solcher „Vorantreibender“? Mit seinem in der Beraterszene viel diskutierten Buch „Reinventing Organizations“ bestimmt er jedenfalls die neuere Debatte um die Zukunft der Organisation. Eine Frage, der sich auch die Kirche nicht entziehen kann. Vor dem Hintergrund der großen Veränderungen, die auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden und einen disruptiven Wandel auslösen: Demographie, Globalisierung, Digitalisierung, Wertewandel, stellt sich für jedes Unternehmen, für zivilgesellschaftliche Organisationen ebenso wie religiöse Institutionen die Frage, wie eine sinnstiftende Form des Zusammenlebens und effektiven Zusammenwirkens aussehen kann. Und wie es im Laufe der Menschheitsgeschichte eine Entwicklung zu immer komplexeren Strukturen gab, so vermutet Frédéric Laloux, dass sich auch in unserer Zeit neue Organisationsformen finden lassen, die sich (noch besser) „evolutionär“ den je neuen Gegebenheiten anpassen.

Die Metapher für diese Organisationen ist der lebendige Organismus. Als ‚organische Organisationen‘ zeichnen sie sich Laloux zufolge durch eine außergewöhnliche Komplexitätsfähigkeit aus, weil sie wie das natürliche Pendant keine Machthierarchien besitzen, keine Organigramme kennen und sich eigenständig und dadurch hochflexibel an die Umwelt anpassen können.

Karim Fathi

Grundsätzliche Neuerungen dieser evolutionären Organisationsform verortet Laloux in den Bereichen Selbstmanagement, Ganzheitlichkeit und im evolutionären Zweck und stellt damit nicht nur die klassischen, weithin bekannten und bewährten Strukturen von Organisationen und Institutionen in Frage, sondern entwirft auch Perspektiven für deren Weiterentwicklung.

Ein Angebot also auch an die Kirche?

Man mag instinktiv vor so radikalen Neuerungen zurückschrecken und sich gegen Infragestellungen profaner Organisationsentwicklung verwahren (mit dem Hinweis, als sakramental verfasste Kirche per definitionem eine Organisation sui generis zu sein). Andererseits könnte die Offenheit für das Wirken des Geistes den Anfangsverdacht nähren, dass auch Erkenntnisse auf dem Feld postmoderner Organisationsentwicklung dazu beitragen können, dass die Kirche – in ihrer sakramentalen Sendung, aber auch in ihrer äußeren Gestalt und inneren Struktur – mehr ihrem eigenen Auftrag und Anspruch entspricht.

„Man erwartet von der Kirche ‚Modelle‘“, hatte der frühere Aachener Bischof Klaus Hemmerle diese Erwartungshaltung einst ins Wort gebracht. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob sein „Modell“ einer trinitätstheologisch durchdachten Kirchenorganisation in den eigenen kirchlichen Kreisen rezipiert worden ist, geschweige denn in der allgemeinen Organisationsentwicklung Beachtung gefunden hat: „Kirche ist Liebe. Dieses Wort mag man nicht, aber was es meint, das erwartet, ja fordert man gerade auch von der Kirche.“ Der Anspruch bleibt gleichwohl gültig, auch wenn Kirche in ihrer konkreten Ausdruckgestalt hinter dem eigenen Selbstbild, in ihren organisational-relationalen Beziehungen „Modellcharakter“ für andere zu besitzen, zurückbleibt.

Doch wenn Erkenntnisse der Organisationsentwicklung dazu einen Beitrag leisten könnten, dass die Kirche ihre eigene Organisationsstruktur kritisch hinterfragt und sich Verbesserungen in ihrem ureigenen Interesse aufdrängen, dann wäre es aller Mühe wert, den Dialog hierüber zu suchen. Kirche würde sich, was ihr gut anstünde, nicht nur als „lehrende“, sondern auch als „lernende“ Organisation begreifen, die dialogisch ihre Welt- und Weitsicht mit einbringt. Nicht auszuschließen, dass daraus ein wechselseitig bereicherndes Gespräch entsteht, in dem auch profane Organisationen einen Mehrwert entdecken, dazu herausgefordert, sich ebenfalls – nach kirchlich inkulturiertem Maßstab – „neu zu erfinden“. Es wäre den Versuch wert. 

Foto: © Stefan Weigand


klasvogt kirche

Lese-Tipp:

Peter Klasvogt: Kirche neu erfinden. Lebendiger Organismus. Lernende Organisation. Bonifatius-Verlag 2021


Peter Klasvogt

Direktor des Sozialinstituts Kommende Dortmund und der Katholischen Akademie Schwerte, zuvor Regens am Paderborner Priesterseminar und Vorsitzender der Deutschen Regentenkonferenz. Derzeit ist Prälat Dr. theol. Peter Klasvogt Vorsitzender des Leiterkreises der Katholischen Akademien in Deutschland und Mitglied im Vorstand der Vereinigung mitteleuropäischer Sozialethiker. Er ist u. a. Mitherausgeber der internationalen Zeitschrift für christliche Sozialethik „Amosinternational“. Peter Klasvogt, Buchautor und Kolumnist, ist national und international in zahlreichen Initiativen und Vereinigungen engagiert. Dafür wurde mit dem Konstanzer Konzilspreis (2017) und dem Salzburger Dialogpreis (2020) ausgezeichnet.

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