Was das Erzählen mit Kindern (und Erwachsenen) macht
Viele Erzählerinnen und Erzähler haben während der Corona-Pandemie den digitalen Raum für sich entdeckt. Auch in Schulen gab es einen digitalen Schub, der Herausforderungen, aber auch neue Möglichkeiten mit sich brachte. Warum also nicht auch Geschichten digital für Kinder erzählen?
Aufgeregt sitzen die Kinder auf den Kissen im Turnraum der Kita. Es wird getuschelt und hin und her geruckelt. Ich stelle mich vor die Kinder, sage erst einmal nichts, suche den Blickkontakt und sammle die Aufmerksamkeit. Dann ein paar zarte Töne auf der Sansula. Leise Töne für die Ohren und wie von selbst werden die Kinder stiller, lauschen und sind ganz Ohr. Bevor es aber mit den Geschichten losgeht, muss noch eine sehr wichtige Frage geklärt werden: „Mögt ihr Geschichten?“ Einzelne zaghafte „Jas“ sind zu hören. Lieber nochmal nachfragen. Erst als ein vielstimmiges lautes „Ja!“ erklingt, fangen wir an. Nun sind alle bereit und es reicht ein einfaches „Es war einmal“, um die Kinder mit in die abenteuerliche Welt der Geschichte zu nehmen …
Erzählen ist mehr als die Geschichte
Erzählen ist keine Einbahnstraße, ist viel mehr als nur still zu lauschen. Die erzählte Geschichte wird gemeinsam erlebt. Gefühle und Spannung als Gemeinschaft durchstanden. Wenn sich, wie in dem koreanischen Märchen, Bruder und Schwester hoch oben im Baum vor dem Tiger verstecken, ist es mucksmäuschenstill, die Kinder halten den Atem an. Und wie befreiend ist dann das gemeinsame Lachen, wenn der dumme Tiger abstürzt und auf dem Po landet.
Beim Erzählen spinnt sich ein Band zwischen allen, die im Raum sind. Jede spürt den Atem des anderen, hört das Klatschen der Hände, ist eingeladen mitzumachen beim Rauschen des Windes oder dem Stampfen des Elefanten. Selbst Kinder, die sprachlich noch nicht alles verstehen können, sind dabei, fühlen sich dazugehörig. Lebendiges Erzählen mit Mimik, Gestik und Mitmachelementen bindet alle ein.
Erzählen ist ein gemeinsamer Raum
Diese Beziehung zwischen uns und den Kindern ist elementar für das sinnliche, freie Erzählen. Die Kinder rufen etwas, wir nehmen es in unsere Erzählung auf. Wir spüren die Stimmung, die unsere Geschichte erzeugt. Wird es zu aufregend, erzählen wir ruhiger, wird die Spannung zu groß, sorgen wir für Momente des Lachens, lässt die Konzentration nach, kürzen wir oder bauen Mitmachelemente ein. Die Kinder spüren, dass sie wahrgenommen werden, dass sie ein wichtiger Teil der Erzählung sind. Denn die Geschichten erzählen wir immer gemeinsam.
„Geschichten gibt es nicht“ sagte er. „Bis man sie erzählt. Sie kommen nirgends raus. Sie kommen nirgendwo her. Sie sind nicht da. Man muss sie bauen. Wie man ein Haus aus Bauklötzen baut. Dann sind sie da!“
Harrie Geelen
Sitzen die Kinder dagegen vor dem Bildschirm, wird das Erzählen zweidimensional. Bei einem Video fehlt der Kontakt völlig. In einem Live-Stream kann das Miteinander nur sehr diszipliniert stattfinden. Wortmeldungen per Handzeichen haben nichts mit spontanen Reaktionen zu tun. Die Mikros müssen abgestellt sein – das wäre, als würden wir in einer Erzählsituation den Kindern den Mund verschließen. Die Wahrnehmung bleibt sinnlich begrenzt, auf das Hören und Sehen. Ein wichtiger Sinn bleibt ausgespart, das Spüren der Gruppe. Es ist dieser gemeinsame Herzschlag, der eine Geschichte als gemeinschaftliches Erleben so einzigartig macht.
Erzählen ist Malen mit Worten
Dieses gemeinschaftliche Erleben öffnet den Weg für das schönste Kopfkino! Durch das sinnliche und lebendige Erzählen einer Geschichte können Kinder ihre eigene Bilderwelt im Kopf erschaffen. Fantasie und Neugier beginnen mit dem Vertrauen in die eigenen kreativen und schöpferischen Fähigkeiten. Wenn ein Kind sich etwas vorstellen kann, kann es Worte und Begrifflichkeiten bilden, Zusammenhänge erkennen, Schlussfolgerungen anstellen. Das ist eine spielerische und freudvolle Art, Sprache und Konzentration zu fördern – und zwar ganz nebenbei! Das eigentlich Wichtige ist das gemeinsamen Spüren und Erleben und das Abtauchen in die eigene Fantasie.
„So, nun beginnen wir und wenn wir am Ende unserer Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt.“
Hans Christian Andersen, Die Schneekönigin
Selma Scheele und Susanne Tiggemann sind die künstlerischen Leiterinnen des IX. Internationalen Erzählfests „Die Welt erzählt!“, das vom 12. bis 16. September in der Metropolregion Rhein-Neckar stattfindet. Es steht unter dem Motto “Geschichten natürlich bunt”. Geschichtenerzähler*innen aus aller Welt gehen mit ihren Zuhörern*innen auf Erzählwanderung, besuchen Kinder in Kitas und Grundschulen und schlagen ihr rotes Erzählzelt auf. Das Erzählfest wird vom Ludwigshafener Heinrich Pesch Haus veranstaltet. Als langjähriger Hauptsponsor engagiert sich wieder die BASF SE für das einzigartige Erzählevent.
Entstanden ist das Internationale Erzählfest aus dem Projekt „Erzählwerkstatt“ der „Offensive Bildung“. In der „Offensive Bildung“ engagieren sich seit 2005 Wirtschaft, Spitzenverbände, Träger von Kindertagesstätten, Schulen, Wissenschaft und Fachpraxis gemeinsam für gute und vielseitige frühkindliche Bildung in den Kitas und Grundschulen in der Metropolregion Rhein-Neckar. Bis heute haben insgesamt 511 Kindertagesstätten, Grundschulen und pädagogische Fachschulen an den Projekten teilgenommen. Hierbei wurden über 4.000 pädagogische Fach- und Lehrkräfte geschult und 47.000 Kinder erreicht (Stand: 31. Dezember 2019).