Versöhnung  

Erzählen nah den Evangelien – ohne Evangelien

Was die neuen Notizbücher von Peter Handke zutage fördern

Erich Garhammer hat sich mit dem neuesten Werk von Peter Handke „Innere Dialoge an den Rändern 2016–2021“ beschäftigt. Der Literaturnobelpreisträger Handke lässt sich immer wieder von der Bibel inspirieren und korrigieren, besonders von den Evangelien. Die Evangelisten sind für ihn interessante Erzähler.

Für Peter Handke ist das Schriftstellersein Berufung, aber auch Beruf, der mit anderen Berufen mithalten kann. „Am Morgen lege ich extra auf den Arbeitstisch der Dachdecker zu deren Sägen und Messgerät ein Buch. Ich möchte einfach, dass sie sehen, dass es noch andere Sachen gibt … Aber es ist eigentlich nicht für die, es ist vielmehr für den Himmel, damit ein Gleichgewicht herrscht zwischen Büchern und Sägen und Zangen und Hammer. Es ist eigentlich nur für ein drittes Auge. Für das Auge Gottes. Nicht für die Arbeiter, sondern ein Symbol des Daseins.“

Schriftstellersein ist Arbeit und Lebensausdruck: dazu gehören auch die täglichen Notate. Auf seinen Reisen und Fußmärschen hatte er stets Texte zum Übersetzen dabei. Auch das Neue Testament gehörte dazu in der Interlinear–Übersetzung von Ernst Dietzfelbinger.

Seine Tagebücher beweisen: Er hat das Neue Testament nicht nur gelesen, sondern hat es für sich neu übersetzt.

Zahllos sind seine Einträge zum Lesen in den Evangelien. Ich konnte seine Tagebücher in Marbach einsehen.

Evangelien neu gelesen

Am 13. Februar 1990: „Das Lesen, gerade der Evangelien, wo immer wieder jemand außer sich ist, außer sich gerät, bringt mich zu mir.“ Am 14. Februar: „Er holte Atem in der Schrift.“ Die Bibellektüre führt ihn zu einer Neueinschätzung des eigenen Schreibens: „Schreiben: Sich hineinbegeben in die Enge und herauskommen mit der Weite.“ (17. Februar) oder 28. Februar 1990: „Da kannst du neu erzählen lernen und denk immer, dass die Bibel einfach heißt: Das Buch, ho biblos.“
6. März 1990: Am 11. April der Eintrag: „Ändere auch nur ein Wort und so wird deine Seele gesund.“ Zur Emmausgeschichte notiert er am 1. Mai 1990: „Die Kraft der Offenheit (die mir immer wieder fehlt; auch das Schreiben verschließt mich manchmal, statt mich zu öffnen). Wie oft fehlt mir das brennende Herz.“

In diesen wenigen Zitaten wird deutlich, dass Peter Handke die Evangelien nicht nur liest, sondern sein Schriftstellersein von ihnen inspirieren und auch korrigieren lässt. Ebenso verkostet er die Sprache der Evangelien, die Ausdruckskraft ihrer Sprache. Es springen ihn die Wörter an, die berühren, die nahe gehen, die Gefühle zum Ausdruck bringen. Peter Handke hat die Evangelien neu gelesen als Berührungsgeschichten.

Der Wurf des Auges

In seinem „Versuch über den geglückten Tag“ kommen wir seiner Poetologie noch näher auf die Spur. Sie verdankt sich dem Auferstehungskapitel aus dem 1 Korintherbrief (1 Kor 15). Handke übersetzt 1 Kor 15,22: „Wir werden verwandelt in einem Augenblick“ mit: Wir werden verwandelt „in einem Wurf des Auges.“ Seine Literatur ist der Versuch der Realisierung dieses „Augenwurfes“, wir können es biblisch auch Metanoia nennen.

Garhammer Handke Zimmermann
Emmausjünger – Tobias Zimmermann SJ, Öl auf Leinwand

Besonders die Emmauserzählung hat es ihm angetan: „Führ die Emmausgeschichte weiter in der Vorzukunft: wie die beiden Jünger nach der Begegnung mit dem Auferstandenen sich voll Freude aufgemacht haben werden auf den Rückweg nach Jerusalem, und wie ihre Haltung aufrecht, erhobene Köpfe, jene noch größere Freude angezeigt haben wird, die sie dann haben werden am Er­zählen.“ (Peter Handke, Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salzburg und Wien 1998, 532). Die Freude über die Begegnung mit dem Auferstandenen wird noch gesteigert durch die Vor­freude auf das Erzählenkönnen dieser Freude.

Auf die Frage, warum er die heilige Schrift lese, antwortet Peter Handke: „Um in mir das Licht des Erzählens zu erhalten; das Beben der Erzählung“ (Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Salzburg und Wien 2005, 515). Für Handke sind die Evangelisten vor allem als Erzähler wichtig, weil sie für das Erzählte einstehen, weil sie genau sind, weil sie nicht stereotyp berichten. Die Evangelien sind für ihn in diesem Sinn Poesie: „Poesie: das gefühlte wie begriffene Rätsel – gegen alle die langweiligen erklärten Rätsel, die ich weder fühle noch begreife.“ (516).

Die poetische Sprache empfindet er als die natürliche, die einzig wahrhaftige Sprache. Das Nichtlesen deutet er als Gesundheits- und Wahrnehmungsschädigung.

Nicht mit Lesen verdirbt man sich die Augen, sondern mit Nichtlesen.

Langsame Lektüre

Die Lektüre der Aufzeichnungen belohnt reichlich: man braucht dafür Zeit, ein Satz pro Tag reicht. So werden sie zum Viaticum und stiften an zum versöhnten Blick auf Welt und Menschen. Kein bellizistischer Handke also, sondern ein meditativer: „Verb zur Poesie: Sie entkriegt.“ (Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015, Salzburg und Wien 2016, 257).

Ein wichtiges Motiv ist die Abwehr alles Missionarischen, alles Dozierenden. Vor allem als Seminarist im Internat in seiner Kindheit hat Peter Handke erfahren, dass Bildung häufig mit Autoritarismus verwechselt wird, dass Bildung als Zwang erscheint und etwas von Gewalttätigkeit an sich hat: „Das Ausgesetztwerden ins Internat, damals 1954, war wie ein Skalpiertwerden“ (Gestern unterwegs, 208). Handke ist skeptisch gegenüber jeglicher Lehre, vor allem gegenüber jeglicher Ideologie: „Lehre nicht. Doch wenn du lehrst, dann so, als habest du es staunend eben erst selber erfahren“ (444). Oder ganz ähnlich: „Die einzig mir vorstellbare Art von Missionarischwerden oder Missionieren: ,Schau! Hör!‘“ (134)

Für Handke gibt es keine Abstraktbegriffe. Seine Sätze sind immer mit einem Unterfutter versehen, der Erfahrung des Jetzt, des Hier und des Heute: „Auf die Frage, was ist Schönheit? antwortet der poetische Mensch: Das da … und das… und das… ist zum Beispiel schön“. (529) Für solche Erfahrungen freilich muss der Mensch eine Aufmerksamkeit entwickeln, ein Auf-Hören, eine Achtsamkeit. Deshalb ist für Handke das wichtigste Wort, das Wort ‚Auf’: „Übersetze sursum corda!, einfach mit ‚Auf’!“ (538)

Innere Dialoge an den Rändern 2016–2021

Nach den Büchern „Am Felsfenster“, „Gestern unterwegs“ und „Vor der Baumschattenwand“ greifen die Notate von 2016 bis 2021 die bekannten Themen neu auf. Die Internatserfahrung wird noch einmal beschrieben, nicht so sehr als Heimweh, sondern als Erfahrung der Fremde, als eine Auszehrung lebenslänglich. Erneut rückt er die Evangelien in den Mittelpunkt: sie sind nicht nur wahr, sondern mehr als wahr. Sein Ideal: „Erzählen nah den Evangelien – ohne Evangelien.“ (91) Ein Beispiel: Jesus treibt den Dämon aus einem Stummen aus und der Stumme spricht. Wäre nicht auch das Umgekehrte denkbar: Jesus treibt den Dämon aus einem Dauerredner aus und dieser würde still, endlich still!

Und dann sein Wunsch: die Evangelien mögen nie enden. Und er setzt hinzu: Aber enden sie denn?

Besser kann man den Markus-Schluss literarisch nicht umschreiben. Oder seine Aufforderung: die Evangelien unter den Arm klemmen und sich zum Lesen begeben: schöne Klemme!

Die Notate aus dem Jahr 2019 wurden mit besonderer Spannung erwartet: es ist das Jahr der Nobelpreisverleihung an Handke. Erneut wurde er wegen seiner Serbienaffinität schwer angegriffen. Wie würde er reagieren? Würde er vor Wut schäumen? Oder gar Rachegedanken formulieren? Er reagierte mit seiner Erzählung „Das zweite Schwert“ und stellte ihr ein Zitat aus dem Lukasevangelium voraus: „Und er sagte zu ihnen: wer jetzt einen Geldbeutel hat, nehme den, eben so einen Reiseranzen, und wer keins davon hat, verkaufe sein Gewand und kaufe ein Schwert!… Sie aber sagten: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter! Und er sagte zu ihnen: das genügt“ (Lukas 22,36-38).

Das zweite Schwert: Kein Werkzeug der Rache

Nicht wenige hatten nach den Vorgängen um die Nobelpreisverleihung und die heftige Kritik an Handke einen Rachefeldzug erwartet. So hebt die Geschichte auch an, sie zeichnet das Gesicht eines Rächers, nimmt aber dann einen anderen Weg. Das zweite Schwert ist keine Waffe, sondern meint das Erzählen, das zweite Schwert umschreibt die Metapher, das zweite Schwert bewirkt die Verwandlung der Welt durch Poesie. Die gleichen Gedanken finden sich nun auch in den Notaten: die späte Rache wird zur barmherzigen Rache, die Stimme des Rachegottes äußert sich im Säuseln des Windes wie bei Elia. Um diese Metamorphose von Rache geht es: aus der Rache wird das Racheglück, sie nicht vollzogen zu haben. Sein Ideal: fröhliches Versäumen – auch der Rache.

Ist Handke sanft geworden, altersmüde oder gar altersweise? Mitnichten: die neue Erzählung „Zwiegespräch“ (2022), in der zwei grantelnde Alte am Ende zu jugendlicher Frische finden, deutet sich in den Notaten von 2021 bereits an: „Kleinkinder, die Ewigen Augensucher, und so wird es bleiben, von Ewigkeit zu Ewigkeit, amen.“ (356) Weiter fasziniert ihn das Zehenspiel der Neugeborenen, etwas Zusätzliches zu ihren offenen Augen. Das für Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“ geschriebene Gedicht vom Kindsein bleibt weiter die Grundmelodie im Schreiben von Peter Handke.

»Innere Dialoge an den Rändern 2016–2021«

Cover Innere Dialkoge Handke

Peter Handkes „Innere Dialoge an den Rändern 2016–2021“ ist im April 2022 im Verlag Jung und Jung erschienen.

Peter Handke (79) ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Autoren. Für seine Prosawerke (u.a. „Die Hornissen“, „Der kurze Brief zum langen Abschied“, „Der große Fall“) wurde der Österreicher 2019 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. 2021 wurde er für seine Meinung bezüglich der Jugoslawienkriege kritisiert.

Headerfoto: © Alain Jocard/GettyImages, Beitragsbild © Stefan Weigand


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