Tote Punkte sind für österlich geprägte Menschen immer der Ursprung und Beginn neuen Lebens. So auch für Sr. Philippa Rath OSB. Für sie befindet sich unsere Kirche derzeit in einer klassischen Karsamstags-Situation.
Der Karsamstag ist der Tag der Grabesruhe, des Schweigens, des Nichts. Ein Tag des Übergangs. Ein Brückentag zwischen Tod und Leben, zwischen Dunkelheit und neu aufstrahlendem Licht. Manchmal braucht es solche Tage und Zeiten. Bisweilen braucht es auch Trümmer, um durch Ruinen hindurch den Blick in den Himmel wieder frei zu bekommen.
Ein erster toter Punkt, der das Ende der uns so vertrauten Gestalt von Kirche einläutet, ist für mich der immer tiefer werdende Abgrund der Missbrauchsverbrechen und deren Vertuschung. Wieviel an sexualisierter und spiritueller Gewalt, an Selbstüberhöhung und Machtmissbrauch, an falscher Loyalität und Verantwortungslosigkeit ist da bei uns und überall auf der Welt geschehen.
Wen wundert es, dass die Glaubwürdigkeitskrise und der Autoritätsverlust der Kirche und ihrer Amtsträger inzwischen so groß sind, dass viele sich in unserer Kirche heimatlos fühlen. Viel zu viele sind inzwischen gegangen. Nicht wenige von ihnen machen sich intensiv auf die Suche nach neuen Formen christlicher Gemeinschaft. Graswurzelbewegungen entstehen da zurzeit, Hauskreise und (Haus-)Gemeinden wie einst in neutestamentlicher Zeit. Sie alle sind für mich Lichtzeichen in der Dunkelheit.
„Gott ist aus der Kirche ausgetreten“
Friedrich Nietzsche proklamierte einst: „Gott ist tot! Und wir haben ihn getötet!“ Zu seinen Lebzeiten war das noch jenseits aller Vorstellung seiner Zeitgenossen. Ebenso erging es Hanns-Dieter Hüsch mit seiner Ballade „Gott ist aus der Kirche ausgetreten“. Heute rennen die beiden mit ihren Gedanken bei vielen Menschen offene Türen ein. Nietzsche und Hüsch verbindet, dass sie Kirchenkritik mit Gottessehnsucht verknüpfen. Damit sprechen sie vielen aus der Seele.
Ein zweiter Blick in die Trümmer: Diejenigen, die die Scherben auflesen, um Neues zu bauen, werden mit immer neuen Verboten und Stoppschildern ausgebremst. Römische Machtdemonstration könnte man das nennen, tiefsitzende Angst auch vor jeglicher Veränderung. Vielleicht einer der letzten verzweifelten Versuche des Sich-Aufbäumens gegen den Glaubenssinn der Gläubigen, gegen die Zeichen der Zeit und die Kraft der besseren Argumente?
Wie sehr dabei über Jahrzehnte mühsam aufrecht erhaltene Fassaden ins Wanken geraten sind, zeigt die Vehemenz, mit der Reformversuche verunglimpft werden. Von Kirchenspaltung ist da die Rede, von einer zweiten Reformation gar. Die vermeintlich Schuldigen sind schnell ausgemacht, so als ob es nicht schon lange eine schleichende Spaltung gäbe, die nämlich zwischen Kirchenvolk und Amtsträgern und zwischen denen, die gehen, und denen, die (noch) bleiben.
Hoffnung, dass tote Punkte nicht das letzte Wort sind
Nein, die Erneuerungsbewegung in unserer Kirche ist kein deutsches Phänomen. Menschen aller Kontinente stehen inzwischen auf und berufen sich auf ihre Würde als Getaufte und Gefirmte, als mündige Christinnen und Christen. Mutig und offen setzen sie sich für einen Neuanfang ein, für eine radikale Rückbesinnung auf die Botschaft Jesu, der weder Diskriminierung von Frauen noch Ausgrenzung von Minderheiten kannte, weder machtvolle Ämter noch klerikale Privilegien.
Kein Wunder, dass es weltweit vielfach die Frauen sind, die Kirche neu denken, die die Ämterfrage neu stellen und Christsein anders leben möchten. Sie waren es schließlich auch, die nach der Leere des Karsamstags am Ostermorgen zum Grab liefen – voll Hoffnung, dass tote Punkte nicht das letzte Wort sind, sondern die Liebe den Tod überwindet.
Magazin-Empfehlung
Dieser Beitrag erschien erstmals in Heft 2/2023 des Jesuiten-Magazins. Die Ausgabe hat als Schwerpunktthema “Am toten Punkt” und stellt Fragen nach der Zukunftsfähigkeit von Kirche und ihrem Beitrag für die Gesellschaft.
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