Warum die Grenzen unserer Religionen und Kulturen keine Mauern sein müssen
Im Oktober trafen sich acht Frauen im Südwesten Frankreichs, in der Provinz Béarn, auf Château d’Orion. Gefördert wurde dieses Zusammensein vom Deutsch- Französischen Bürgerfond. Acht Frauen aus Islam, Judentum, Protestantismus und Katholizismus. Bis auf mich sind sie alle studierte Fachfrauen ihrer Theologie. Die Imaminnen, Rabbinerinnen, Pfarrerinnen und die katholische Theologin nahmen mich jedoch sofort und ohne jeden Vorbehalt in ihrer Mitte auf.
Schmunzelnd nannte eine von uns das Treffen: „Interreligiöse feministische Konferenz zwecks Auflösung des Patriarchats, Sektion Fankreich/ Deutschland“.
Das ABER verdunstet
Ich habe mich sehr über die Einladung zu diesem Treffen gefreut. Denn mich beschäftigt schon lange die Frage, ob der weibliche Blick und weibliche Spiritualität die Religionen zu einer friedensstiftenden Größe machen könnten, statt zu einem Tummelplatz für hermetisch abgezirkelte Wahrheitsbehauptungen, Abgrenzung, ja kriegerischer Inanspruchnahme Gottes, wie wir es seit Jahrhunderten, nein seit Jahrtausenden kennen. Gab und gibt es auch immer mal wieder Versuche der interreligiösen Dialoge, so erschöpfen sich diese allzu oft in einer Kultur des „Meet and Greet“.
Ich bin sicher: Anders glauben ist nicht falsch. Das Andere ist anders, aber deswegen nicht unrichtig.
Wer nicht sofort erschrocken zurückschreckt, weil eine Form oder eine Bezeichnung fremd ist, entdeckt vielleicht eine Bereicherung durch den neuen Aspekt, eine Annäherung von ganz anderer Seite. So kann das ABER, das wir so sehr gewohnt sind, im Mund zu führen, verdunsten. Das Andere wird sichtbar als Vielfalt der Farben des immer gleichen Lichtes.
Intensive Gespräche
Wir haben uns sieben Tage und zum Teil Nächte lang von unserem Glauben erzählt, von unseren Kämpfen gegen patriarchale Strukturen, die ja die Statik all unserer Religionen prägen. Wir sprachen von unserem Aktivismus und unserer Frustration, von unserer Spiritualität und unseren Gebeten. Und siehe: Auf Schloss Orion passierte Erstaunliches.
Es gab von Beginn unserer Begegnung an eine auffallende Abwesenheit von Rechthaberei, Besserwisserei, „Erklärbärigkeit“ und Befremdung. Wir konnten diskutieren, zuhören, unglaublich viel lachen, singen, beten, ausführen, fragen und erklären – es war willkommen. Wir waren wie Schiffe, die einen friedlichen Hafen erreicht haben. Die raue See des Besserwissens und der Überheblichkeit, des Kampfes um bessere, klügere, frömmere, gebildetere Argumente, längere Redezeit oder anstrengende Pseudo-Lobhudelei blieben draußen.
Wir mussten uns nichts beweisen
Bei unserem Treffen im Schloss Orion kam uns das ABER nicht ins Hirn oder gar über die Lippen. Keine von uns Frauen wäre auf die Idee gekommen, von falsch oder richtig zu reden: Weder als wir versuchten, uns zu erklären, warum, noch als wir erzählten, was wir glauben. Es gab weder eine Hierarchie der Frömmigkeit noch der Gelehrsamkeit. Im Gegenteil war es für alle selbstverständlich, die Gunst der Stunde und der gelehrten Frauen zu nutzen und Antworten zu erbitten auf Fragen, die frau schon lange hatte oder von denen wir gar nicht wussten, dass sie in uns schlummerten.
Es gab weder dummes Toleranz-Pseudo-Gelaber noch Besserwisserei. Keine erhobene Augenbraue sandte eine Warnung, kein süffisantes Lächeln verwies eine auf den hinteren Platz.
Wir mussten uns nichts beweisen.
Das weibliche Gespür
Warum war das so? Warum war die Atmosphäre zwischen acht Frauen verschiedener Konfessionen und Religionen und zweier Nationalitäten (abgesehen von den Herkünften, die noch mindestens ein halbes Dutzend Nationalitäten hinzufügten – als besondere Gewürzmischung sozusagen) so unvoreingenommen, so gänzlich ohne Vorbehalte?
Ein Grund ist vielleicht in der weiblichen Seite des Menschseins selbst zu finden. Wir sind feministisch gesinnte Frauen, die die Ungerechtigkeiten, Boshaftigkeiten und Absurditäten zutiefst patriarchal geprägter Strukturen zu entlarven und zu verändern suchen. Strukturen, die unsere Religionen prägen, in denen ja gleichzeitig unsere spirituellen Wege verankert sind.
Vielleicht gibt es ein feines weibliches Gespür, das zwischen Form und Inhalt zu unterscheiden weiß. Die weibliche Seite in uns Menschen – die SammlerInnen des Lebens –, wissen, dass der Hunger nicht nach dem Topf, sondern nach der Suppe fragt. Wenn ein Krug zerbricht, in den hinein wir Nährendes sammeln, dann jammert unsere weibliche Seite dem guten alten Stück nicht lange nach, mag es auch antik oder ein Familienerbstück gewesen sein. Wir nehmen das nächste Gefäß, das sich anbietet, zur Not unseren Schal oder den Saum unseres Kleides, und sammeln weiter.
Mehr als friedliche Co-Existenz
Dieses Gespür der Relevanz hilft uns vielleicht, die Grenzen unserer Religionen und Kulturen nicht als Mauern wahrzunehmen, sondern allenfalls als überschreitbare Linien. Unserem Heimatgefühl tut das keinerlei Abbruch. Aber durch die gegenseitige Achtung und die Erlaubnis, die Linien überschreiten zu dürfen, wird jede Idee von Imperialismus, Krieg oder Mission auf einmal absurd und überflüssig.
Wir sind so frei, keine Angst mehr davor zu haben, eine andere Sicht, ein anderer Glauben könne uns etwas nehmen. Wir erfahren Bereicherung nicht durch Annektierung, sondern durch Teilhabe.
Dies ist die Freiheit einer weiblichen Sicht auf Religion: Wenn das Überschreiten der Linien seine Bedrohung verliert, passiert etwas, das mehr ist als „Meet and Greet“ und friedliche Co- Existenz. „Geschwisterlichkeit“ trifft es ganz gut: Uns erfüllt eine gemeinsam erspürte Demut vor einer Wahrheit, die wir nicht fassen noch besitzen können. Ja, nicht einmal benennen. Wenn das geklärt ist, zieht Frieden ein.
Tastende sind wir und nehmen uns bei den Händen. Mäandernd, unterwegs wie Wasser, das sich Wege sucht, immer bergab fließt, irgendwann vereint, der großen Mündung zu.
Immer nach Hause.