Wie es einem Profischiedsrichter mit Abschied und Neuanfang geht
34. Spieltag, 17. Mai 2008, 17:19 Uhr, München Allianz-Arena: Schlusspfiff. Mit dem letzten Pfiff dieser Saison beendet Markus Merk nach 20 Jahren und 339 Bundesligaspielen nicht nur ein Spiel, sondern auch seine Karriere als Fußballweltschiedsrichter.
Freiwillig, selbstbestimmt vor dem Erreichen einer Altersgrenze habe ich diesen Zeitpunkt gewählt. Natürlich ist es ein bewegender Augenblick, wenn du einen wichtigen Lebensabschnitt, der dich geprägt hat und über den Millionen von Menschen dich definieren, beendest. Und du verlässt eine Bühne, die für viele Menschen ein so großes Faszinosum bedeutet, in der du Jahrzehnte nicht nur dabei, sondern mittendrin warst. Dabei sein durftest!
Gelebte Emotionalität
Abseits der Feierlichkeiten suche ich auf dem Rasen meinen eigenen Platz. Wie in einem Spielfilm rasen inmitten der riesigen Arena und 68.000 Zuschauern Jahrzehnte harter Arbeit an mir vorüber, unglaubliche Erlebnisse und Augenblicke großer Spiele in Stadien rund um den Erdball, polarisierende Entscheidungen, Begegnungen mit Menschen auf dem Spielfeld, vor allem aber außerhalb des Spielfeldes, Leidenschaft und Liebe zu meinem so exponierten sportlichen Hobby. Gelebte Emotionalität, zugegeben feuchte Augen und Gänsehaut, definitiv einschneidende Sekunden. Einmal ganz tief durchatmen, den letzten Moment im Stadion nochmal genießen – und dann kam der Moment, den ich nie vergessen werden.
Die einfache Frage, die uns immer dann begegnet, wenn Entscheidungen Realität werden: War das richtig?
Unterschiedlicher konnten die Reaktionen auf mein Wochen zuvor angekündigtes Karriereende aus der Glitzerwelt des Fußballs nicht sein. Verständnis und Respekt auf der einen Seite, auf der anderen Seite versuchten Autoritäten des Sports, mein persönliches sportliches Umfeld, die Familie und Freunde, Menschen, die nah an mir und dem Schiedsrichter Markus Merk waren, mich umzustimmen, machten sich ihre eigenen Gedanken über meine Beweggründe und sogar den persönlichen Zustand von mir.
Loslassen – aber selbstbestimmt
Von dem Moment des freiwilligen Schlusspfiffes ist die Antwort auf die Frage „War das richtig?“ bis heute eindeutig. Ja! Es fällt mir gar umso schwerer nachzuvollziehen, wenn Menschen in Sport, Politik, Unternehmen, Wirtschaft oder in anderen Bereichen in unserer Gesellschaft an ihrer Position kleben, gar mit Ellbogen und gegen Regeln des Fairplays Menschen und Fortschritt verhindern. Ich durfte persönlich in diesem Bereich alles erleben. Als der kleine, fußballverrückte Junge, dessen Elternhaus gerade mal 300 Schritte hinter dem berühmten Fritz-Walter-Stadion in Kaiserslautern steht, habe ich 1988 meinen persönlichen großen Traum, einmal ein Spiel in der Bundesliga zu pfeifen, gegen alle Widerstände erreicht. Und ich durfte 20 Jahre Zugaben erleben. Erstens war es die große Dankbarkeit dafür, die mir meinen selbstbestimmten Schlusspfiff leicht gemacht hat. Und zweitens wollte ich mir meine Energie erhalten, auf dem Höhepunkt nach der dritten Wahl zum Weltschiedsrichter des Jahres abtreten und diese Energie für mein berufliches Umfeld, meine Familie, auch für mich und neue Aufgaben nutzen. Loslassen, dem Abpfiff viele neue Anpfiffe folgen lassen.
In vielen Lebensbereichen müssen wir Abschied nehmen, er liegt nicht immer in unserer Bestimmung, aber in den meisten Bereichen haben wir eine Wahl, die eine Entscheidung, aber auch Mut verlangt. Mein Schlusspfiff 2008 war so eine Entscheidung, auch so viele Jahre später definitiv eine der besten meines Lebens.
Das Jesuiten-Magazin

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 1/2025 vom Jesuiten-Magazin. Das Heft steht unter dem Thema »Vom Aufhören« und berichtet über Schlussstriche, Abbrüche, Ungewissheiten – und Neustarts.
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