Wie Anne Applebaums „Verlockung des Autoritären“ für Gänsehaut sorgt
Anne Applebaum hat 2019 ganz andere Gäste zu ihrer Gartenparty eingeladen als 1999. In den zwanzig Jahren dazwischen hat die Journalistin und Historikerin an ihren Freunden festgestellt, wie immer mehr der „Verlockung des Autoritären“ – so der Titel ihres neuen Buches – nachgaben. Darin geht sie der Frage nach, warum Populisten wie Trump und Orbán immer mehr Zulauf bekommen. Obwohl die Lektüre erst einmal beunruhigt, endet das Buch hoffnungsvoll.
Anne Applebaum hat sich mit ihren preisgekrönten Büchern zu sowjetischen Zwangslagern („Gulag“) und der Hungersnot in der Ukraine unter Stalin („Roter Hunger“) einen Namen gemacht. Als Jüdin, Historikerin und durch ihren Mann – den ehemaligen polnischen Außen- und Verteidigungsminister Radek Sikorski – hat sie in den vergangenen Jahren selbst erlebt, wie antidemokratische Herrschaft immer populärer wird. Nicht nur in Polen und Ungarn, sondern auch in Spanien, der USA und Großbritannien. Diese fünf Länder stehen im Zentrum ihres Buches; sie forscht und schreibt über autoritäre Hotspots der Welt.
Nationalismus, der Grenzen überschreitet
Spannend und beunruhigend zugleich finde ich die Zusammenarbeit der nationalen und identitären Parteien. Applebaum zeigt, wie eine geistige Elite (sie nennt sie „clercs“) grenzüberschreitend in Europa und den USA daran arbeitet, die Demokratie zu Fall zu bringen. Karl-Heinz Ott hat kürzlich in „Verfluchte Neuzeit“ gezeigt, wie alt das antidemokratische Denken in Europa bereits ist. Die Themen der neuen Rechten gleichen sich über Ländergrenzen hinweg und lassen sich bei social media gut in Kampagnen gießen: es geht gegen Einwanderer, die Homo-Ehe und das Gendern.
Dass die neuen Medien die Kommunikation der Gesellschaft verändert haben, stellt Applebaum im vierten Kapitel prägnant heraus: „Menschen hatten immer unterschiedliche Ansichten. Heute haben sie unterschiedliche Tatsachen.“
Die gesellschaftliche Debatte verlagert sich ins Netz, oftmals fehlt eine gemeinsame Gesprächsgrundlage – und liefert autoritären Politikern Munition: „Viele Menschen fühlen sich zu autoritärem Denken hingezogen, weil sie keine Lust haben, sich auf Komplexität einzulassen. Sie mögen keine Diskussionen, sie wünschen sich Einigkeit“, schreibt Applebaum.
Links wie rechts
Besonders in den Kapiteln zu Großbritannien und den USA dröselt Applebaum gut die Motive der Demokratiegegner auf. Die Motive sind vielfältig, in England wünscht mancher sich ein Königreich zurück, das international wieder den Ton angibt. Dazu gesellt sich ein Zorn auf die EU und ein Kulturpessimismus.
In den USA, das konstatiert die 57-jährige US-Polin, hat Trump es geschafft, linke und rechte Argumente gegen den Staat einzubinden: Sowohl Vorbehalte gegenüber dem Kapitalismus und Protest gegen Rassismus und Militarismus (links) als auch Bedenken gegen Säkularisierung und die moralische Verdorbenheit der Gesellschaft (rechts).
Beide Seiten sind, ins Extrem getrieben, offen für Gewalt. Das erklärt den Sturm aufs Kapitol. Dem Agieren Trumps hat Applebaum nur ein Kapitel gewidmet. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt haben das in „Wie Demokratien sterben“ ausführlich beschrieben, wie der Ex-US-Präsident aktiv versuchte, die Demokratie zu zerschlagen.
Hoffnungsschimmer
Bei allen beunruhigenden Entwicklungen, endet das Buch von Anne Applebaum doch zuversichtlich. „Es ist möglich, an einem Ort verwurzelt und dennoch weltoffen zu sein“, hat sie auf ihrer zweiten Party 2019 erfahren. Nur mit guten Verbündeten und Engagement ist es möglich, gegen den Autoritarismus anzugehen, denn „freiheitliche Demokratien haben ihren Bürgern immer etwas abverlangt: Teilnahme, Diskussion, Einsatz und Auseinandersetzung“. Vielleicht muss man sich dafür von dem einen oder anderen vermeintlichen Freund trennen.
Die Verlockung des Autoritären
Anne Applebaums „Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“ ist in dritter Auflage Ende März 2022 beim Siedler Verlag erschienen.
Anne Applebaum, 57, wuchs an der Ostküste der USA auf. Sie studierte Geschichte und Literatur und erwarb einen Master in Internationalen Beziehungen in London. Sie schrieb als Journalistin, Korrespondentin und Kolumnistin unter anderem für die „Welt“, den „Guardian“ und die „New York Times“, seit 2019 ist sie im Diensten von „The Atlantic“. Für ihr Buch „Der Gulag“ (2003) erhielt sie u.a. den Pulitzer-Preis. In „Der Eiserne Vorhang“ (2014) befasste sie sich mit der Sowjetherrschaft im östlichen Mittelmeer, „Roter Hunger“ (2019) behandelt sie die Hungersnot in der Ukraine während der Sowjetzeit in den 1930er Jahren.
Applebaum besitzt die polnische und die US-Staatsbürgerschaft und ist mit dem ehemaligen polnischen Außen- und Verteidigungsminister Radek Sikorski verheiratet. Sikorski ist seit 2019 Abgeordneter der christdemokratischen EVP im Europarlament.
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Beitrags- und Headerbild: wunderlichundweigand, Bild Applebaums: © James Kegley