Michael Ney Banner

NEŸS MEINUNG

„Digital ist automatisch besser, oder?“

Warum es Zeit wird, sich von den digitalen Enttäuschungen zu befreien

„Zoom-Fatigue“ – das ist einer meiner gegenwärtigen Lieblingsbegriffe. Damit greifen gerade Magazine, Zeitungsartikel und Social-Media-Posts die Müdigkeit auf, die wir uns mit Videokonferenzen wie Zoom, Teams, Webex und Co eingehandelt haben. Auch in Gesprächen mit Homeoffice-Menschen höre ich den Begriff immer öfter. „Das mit den Onlinemeetings ist langsam nervig. Ehrlich gesagt, ich kann sie langsam nicht mehr sehen!“

In der Tat: Ich freue mich inzwischen auch über jeden persönlichen Kontakt, der möglich ist. Dabei bin ich sonst eher ein Mensch, der auch gut in Klausur leben könnte. „Hoffentlich gibt es endlich wieder das normale Leben, ohne Videokonferenzen!“ Einen solchen Wunsch kann ich also nachvollziehen. Doch so frustrierend das jetzt klingt: Wer glaubt, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht, also dass wir nach Corona wieder in eine analoge Welt zurückkehren, der täuscht sich bitter.

Zoom und Co: Nicht mehr als ein Notprogramm

In den vergangenen zwölf Monaten haben wir digitale Formate eher als Notfallprogramm genutzt. Wir haben damit Lücken gefüllt. An vielen Stellen haben wir gemerkt, dass wir Wege einsparen können, dass nicht jede Dienstreise notwendig ist, dass wir unseren Alltag an der Grenze zwischen Beruf und Privatem flexibler gestalten können. (Vorausgesetzt wir arbeiten in einem der privilegierten Jobs, in denen das überhaupt möglich ist.)

Aber ist es uns in der „Krise“ schon gelungen, das Positive der Situation, die Learnings zu identifizieren? Ich bin überzeugt, dass wir die Potentiale bislang noch völlig unterschätzt haben. Das liegt an zwei Täuschungen.

Allzu oft versuchen wir noch, das analoge Format einfach in ein digitales zu übertragen. Eine Gruppensitzung läuft eben in einem digitalen Raum ab, vor Bildschirmen. Und auf einmal gibt es die Erwartung, dass dann doch jetzt auch alles innovativ rüberkommen müsse. Inhalte müssten doch automatisch protokollierbar sein. Oder eine Abstimmung gleich dann zur Hand sein, wenn man sie mal eben braucht. Glauben wir, dass das die Anwendungen, die wir nutzen, automatisch mit erledigen? Nein – genau wie im analogen Meeting müssen wir etwas dafür tun. Die Vorteile des Digitalen sind automatisch da und praktisch – das ist die erste Täuschung. Doch es gibt noch eine zweite.

Ohne Pause durch die digitalen Räume

Wir beschweren uns darüber, dass wir nach drei Stunden Web-Meeting viel erschöpfter sind, als nach einem analogen Meeting. Aber kommen wir auch auf die Idee zu sagen: „Dann machen wir eben kürzere Meetings, bauen mehr Pausen ein, sorgen dafür, dass es Unterbrechungen gibt, für Small Talk und Soziales?“ Wenn wir We-Meetings nur als etwas Ermüdendes erleben, dann sollten wir beginnen, einfach noch mehr solcher Meetings zu machen, um anderen Erfahrungen Raum zu geben – allein dadurch, dass wir uns zum digitalen Kaffee Trinken, Lunchen oder einfach treffen, um mal zu hören, wie es uns geht.

Nur weil etwas digital ist, wird es nicht von selbst gut und innovativ.

Es braucht den Menschen, der diesen digitalen Raum gestaltet. Und es braucht das Mittun aller, damit ein digitales Format zum Resonanzraum werden kann. Am Ende kann es sein, dass wir im hybriden Lebens- und Arbeitsraum beides nutzen können, ohne müde zu werden. Dass wir gelernt haben, uns abzugrenzen, wo flexibles Arbeiten mit Entgrenzung gedroht hat. Und wenn alles gut geht, haben wir verstanden, dass die digitale Begegnung nicht zum Verlust des Sozialen führt, sondern zu einem Mehr an Kommunikation.

Solange wir aber nur denken, dass das Digitale von alleine besser ist, werden wir enttäuscht. Oder: einfach nur müde.


Michael E.W. Neÿ

studierte Missionstheologie und Sozialökonomie und hat die Frage, wie gutes Leben für uns aussehen kann, zu seiner persönlichen Leitfrage erhoben – seit 2017 mit Blick auf die Frage, wie die Digitalisierung der Arbeit menschlich gestaltet werden kann. Seine Schwerpunkte als systemischer Prozessberater im Projekt Zukunftszentrum Digitale Arbeit Sachsen-Anhalt am Forschungsinstitut Betriebliche Bildung sind Beteiligungsprozesse in Unternehmen und die Pflege 4.0.

Weiterlesen

Tobias Zimmermann

Deutschland kann Zukunft

Der Ausstieg aus der Kernkraft ist ein richtiger Schritt. Er ist gelungen. Und das zeigt: Deutschland kann Zukunft.

weiter
Klaus Mertes

Gegen rechts

Klaus Mertes SJ hat mit Blick auf die Demonstrationen “gegen rechts” gespaltene Gefühle.

weiter
Klaus Mertes

»Kriegsverbrecher, Nazi, Jude«

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird auch in Deutschland als Kriegsverbrecher, Nazi oder Jude bezeichnet. Für Klaus Mertes ein klares Zeichen, dass es in Deutschland einen lebendigen Antisemitismus gibt.
(ukrainisch Володимир Олександрович Зеленський; * 25. Januar 1978 in Krywyj Rih, Ukrainische SSR, Sowjetunion) ist seit Mai 2019 der Präsident der Ukraine.

weiter