Klaus Mertes SJ Kolumne

MERTES’ MEINUNG

Russisch Roulette

Warum es wichtig ist, im Ukraine-Konflikt rational zu bleiben

Stellen Sie sich vor, Sie spielen Schach. Konzentriert. Zug um Zug durchdenken. Sich in die möglichen Gegen- und Winkelzüge des Gegenübers hineindenken. Und so weiter. Und dann stellen Sie sich vor, Sie spielen genau dasselbe Spiel, aber Ihr Gegenüber legt eine Pistole neben sich auf den Tisch. Im Laufe des Spieles greift er nochmal zur Pistole und entsichert sie. Dann legt sie wieder ruhig neben sich.

Würden Sie ruhig bleiben? Würde das Verhalten Ihres Mitspieler Sie bei der Konzentration stören? Würden sich bei Ihnen spielfremde Überlegungen einmischen, wenn Sie über die möglichen nächsten Spielzüge nachdenken? Mich jedenfalls würde das verunsichern. Es würde mir schwerer fallen, mich zu konzentrieren. Meine Spielzüge würden fehleranfälliger werden.

Dieses Bild will mir in den letzten Tagen nicht aus dem Kopf, wenn ich auf die Situation an der ukrainischen Ost- und Nordgrenze denke. Es ist ein Bild, dass mir aus der Zeit des kalten Krieges bekannt ist. Wie ist es möglich, in der Ukraine und auch im Westen kühlen Kopf zu bewahren, wenn auf der anderen Seite der Grenze Kampftruppen aufmarschieren? Nun könnte man einwenden: Ja, genau das hat der Westen ja auch gemacht. Er hat, so das russische Framing, die NATO bis an die Grenzen Russlands (siehe die baltischen Staaten) erweitert.

Der Westen und Russland definieren Sicherheit anders

Aber da gibt es mindesten zwei Unterschiede. Zum einen waren es souveräne Staaten, die in den letzten Jahren aus freiem Entschluss der NATO beigetreten sind. Zum anderen gibt keinen massiven Aufmarsch von NATO-Kampftruppen vor der russischen Grenze. Vielmehr stoßen zwei Mentalitäten aufeinander: Der Westen definiert Sicherheit militärisch. Er schätzt den Aufmarsch vor der Grenze der Ukraine entsprechend als Bedrohung der Sicherheit ein. Die russische Seite definiert Sicherheit traditionell politisch. Sie fühlt sich durch die Existenz von Nachbarn bedroht, die sich ihrem Einfluss entziehen. Sie legt deswegen die Pistole als militärisches Mittel zum politischen Zweck auf den Tisch.

Was aber könnte dieser Zweck sein?

Vermutlich geht es darum zu verhindern, dass sich die ukrainische Bevölkerung nach Westen orientiert (wobei „Westen“ nicht gleichbedeutend ist mit „NATO“), und auch darum, den Westen zu entmutigen, die Ukraine auf diesem Weg zu unterstützen. Eine demokratische Ukraine könnte wiederum durch ihre bloße Existenz nach Russland ausstrahlen und die Machtstruktur gefährden, die der Kreml unter Putin aufgebaut hat.  

Es ist ein sehr gefährliches Spiel, das wir in diesen Tagen erleben. Es hat etwas von Russisch Roulette.

Denn auch dies könnte ja geschehen: Dass der Schachspieler, der einen Nebenschauplatz mit der Pistole aufgemacht hat, schließlich selbst die Kontrolle über die Dynamik verliert, die er ausgelöst hat. Es ist jedenfalls schwer, in dieser Situation rational zu bleiben und auch weiterhin der Rationalität des Gegenübers zu vertrauen. Man kann in diesen Tagen den ungeheuerlichen Ernst spüren, der auf den Verantwortlichen an der westlichen Seite des Schachbrett-Tisches lastet.

Aber es bleibt nichts anderes übrig als rational zu bleiben und nicht panisch zu werden: Eine von Russland unabhängige Ukraine ist keine militärische Bedrohung für Russland. Der Ukraine kann das Recht, sich zu demokratisieren, nicht abgesprochen werden, weil Russland das als politische Bedrohung wahrnehmen könnte.

Völkerrechtswidrige Annexionen und hybride Kriegsführung haben nachhaltig Vertrauen beschädigt. Abschreckung gegenüber potentiellen Aggressoren ist und bleibt deswegen ein rationales, legitimes Mittel der Politik. In diesen Punkten muss man sich von der Pistole auf dem Tisch nicht verunsichern lassen.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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